Katharina Mevissen: Ich kann dich hören

Wagenbach, 19,00 €
Buchcover

Osman Engels und sein Cello sind eng miteinander verbunden. Der Ich-Erzähler ist Student an der Hamburger Musik­hoch­schule und wohnt mit Andi und Luise in einer WG. Er ist im Ruhrgebiet aufgewachsen. Schwierig ist das Verhältnis zu seinem Vater, einem erfolgreichen Geiger, der als Student aus der Türkei nach Deutschland kam. Die Mutter hat die Familie früh verlassen, ein älterer Bruder lebt in Kanada. Die Schwester des Vaters, Elide, hat aus Familienverbundenheit ihren Plan, in Paris zu studieren, aufgegeben, um die kleinen Söhne des Bruders zu betreuen. Sie ist die zweite Erzählerin und man spürt in ihrem Ton die Verbitterung über ihr Leben. Als der Vater sich das Handgelenk bricht, die Tante um Hilfe bittet und ein missglücktes Cello-Vorspiel ihn belastet, gerät Osman in eine emotionale Krise. Er verlässt Freunde ohne Begründung und weigert sich zu kommunizieren. Zufällig kommt ein Diktiergerät in seine Hände. Er hört es ab und findet darauf die verschiedensten Geräusche, viel Stille und die Stimme einer jungen Frau – Ella –, die mit ihrer gehörlosen Schwester eine Reise macht. Osman flüchtet vor seinen eigenen Problemen in das Zuhören.

Die junge Autorin hat einen faszinierenden Roman mit besonderen sprachlichen Ausdrucksmitteln geschaffen. Sie setzt poetische Beschreibungen für alles Akustische ein, Töne werden durch Bilder lebendig, sogar die Gebärdensprache ist zu „hören“. Voller Spannung und Empathie folgt man den Erzählstimmen dieses beeindruckenden Buches.

Charles Ferdinand Ramuz: Aline

Deutsch von Yvonne und Herbert Meier, Limmat, 24,00 €
Buchcover

Ein Dorf auf dem Land um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert. Die Tochter einer armen Witwe verliebt sich in den Sohn des Bürgermeisters, sie beginnen eine heimliche Liebschaft. Doch während die siebzehnjährige Aline von einer gemeinsamen Zukunft träumt, verliert Julien bereits nach einem Sommer das Interesse; das Mädchen wird ihm lästig: „Sie blieb zwar dieselbe, aber Julien war nicht mehr derselbe. Er war wie ein Mann, der sich an einen gedeckten Tisch setzt und wieder aufsteht, wenn er keinen Hunger mehr hat. Er steht auf, und man sieht, wie er weggeht und dass man ihn nicht zurückhalten kann, denn die Liebe, die er hatte, war ein Hunger, der vergeht, wie eben ein Hunger vergehen kann.“ Als Aline bemerkt, dass sie schwanger ist, stößt sie aufgrund der vorherrschenden engen Konventionen auf Ablehnung durch Julien, durch die Mutter und durch sämtliche Bewohner des Dorfes. Die Tragödie nimmt ihren Lauf und so zerbricht das Mädchen an seiner Liebe.

In einfacher, klassischer und wunderschöner Sprache erzählt der Schweizer Autor Charles Ferdinand Ramuz (1878-1947) in seinem Romandebüt aus dem Jahr 1905 die tragische Liebes- und Lebensgeschichte der jungen Aline. Der Autor gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Schweizer Literatur in französischer Sprache und wurde mehrfach für den Literaturnobelpreis nominiert. Die Geschichte erschien 1940 erstmals auf Deutsch und wird nun in einer bibliophilen Ausgabe vom Limmat Verlag neu herausgegeben.

Jocelyne Saucier: Niemals ohne sie

Deutsch von Sonja Finck und Frank Weigand, Insel, 20,00 €
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Matz hat zwanzig ältere Geschwister und ist wahnsinnig stolz auf seine große Familie.
 Er liebt es, sich an die wilde Kindheit zu
erinnern, an das marode Haus, in dem die Horde Kinder täglich um einen Platz auf dem Sofa, eine saubere Hose, ein bisschen Aufmerksamkeit von den Eltern kämpft. Das kanadische Dorf, in dem die Cardinal-Familie lebt, entstand in einer Zeit, als der Bergbau florierte. Doch die Zinkader versiegte schneller als gedacht und das Dorf verwahrloste. Den Cardinal-Kindern ist das nur Recht, schließlich hatte ihr Vater die Zinkader entdeckt und hätte ihr rechtmäßiger, reicher Besitzer werden müssen. Ein großer Konzern hat ihnen ihre Mine gestohlen und so streifen die Cardinals als furchteinflößende Bande durch den Ort, zünden Dynamitstangen und Autos an, machen den wenigen verbliebenen Einwohnern das Leben zur Hölle, bis diese schließlich das Weite suchen. Matz liebt es, wenn seine Geschwister von diesen Abenteuern erzählen, für die er noch zu klein war. Doch an einem Punkt enden die Geschichten immer und er spürt, dass seine Geschwister ein furchtbares Geheimnis hüten. Etwas ist passiert, bevor sie einer nach dem anderen in die weite Welt auszogen und ihre Vergangenheit als „Cardinal-Krieger“ hinter sich ließen.

Jocelyne Saucier zieht uns mit ihrer zärtlichen Sprache immer tiefer in das Spannungsfeld dieser stolzen Familie. Es geht um Familienzusammenhalt, Ehre und Schuld. Man kann diesen Roman gar nicht wieder aus der Hand legen – und am Schluss fällt es einem wie Schuppen von den Augen!

James M. Cain: Mildred Pierce

Deutsch von Peter Torberg, Arche, 22,00 €
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Kalifornien in den Dreißigerjahren während
 der Großen Depression. Mildred Pierce ist 
jung, Mutter von zwei Töchtern und lebt mit
 ihrem Ehemann in einem hübschen Musterhaus. Bert ist im Immobiliengeschäft – bzw. war, denn er hat alles verloren und findet keinen neuen Job. Stattdessen verbringt er lieber Zeit bei seiner Geliebten und so setzt Mildred ihn vor die Tür. Als Hausfrau, auf sich allein gestellt, mit einer Hypothek auf dem Haus, hat sie zunächst Schwierigkeiten, für ihre Familie zu sorgen, ehe sie dank ihrer Willenskraft über die Jahre eine erfolgreiche Unternehmerin wird. An Zähigkeit mangelt es auch Veda nicht, Mildreds ältester Tochter, doch Veda ist zudem selbstherrlich und nutzt die bedingungslose Liebe ihrer Mutter kaltherzig bis zum Äußersten.

James M. Cains hochmoderner Roman aus dem Jahre1941 besticht durch eine klare Sprache mit detaillierter Bildhaftigkeit und erinnert die Leser*innen an die Filmserie „Mad Men“. Vor allem die Thematik der selbstbewussten Frau wird in der Mutter-Tochter-Beziehung fast schon potenziert dargestellt. Geschichten aus der Zeit der Prohibition gibt es viele, „Mildred Pierce“ ist wirklich besonders – und spannend allemal.

Vea Kaiser: Rückwärtswalzer oder Die Manen der Familie Prischinger

Kiepenheuer & Witsch, 22,00 €
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Eine tolle Geschichte voller Tragikomik und extravaganter Figuren, die den Leser*innen 
unmittelbar ans Herz wachsen. Lorenz, ein
 Bonvivant und Schauspieler ohne Engagement, macht sich in einem Fiat Panda auf den Weg, um den Leichnam seines plötzlich verstorbenen Onkels Willi aus Wien in die montenegrinische Heimat zu überführen. Mit von der Partie sind seine drei Tanten, die zur Nachkriegszeit im niederösterreichischen Waldviertel aufwuchsen und ein dunkles Familiengeheimnis hüten: Da ist die zielstrebige Mirl, die zwar wohlhabend geheiratet hat, damit aber sehenden Auges ins Unglück rannte; da ist die bußfertige Hedi, die immer für andere da war, nur für sich selbst nicht; da ist die autistische Wetti, die die Natur liebt, die Pflanzen und Tiere, aber mit den Menschen so ihre Schwierigkeiten hat. Und da ist natürlich Onkel Willi, der eigentlich Koviljo heißt und aus den Bergen Montenegros kommt, wohin er jetzt zurückkehrt – posthum und tiefgefroren, mit Sonnenbrille und Cap auf dem Beifahrersitz…

Eine irrwitzige Balkan-Roadnovel, ein rasanter Trip über gut 1000 Kilometer, während dem jede Menge Vergangenheit aufbereitet wird. Vea Kaiser ist eine Meisterin der Familienepen. Schon ihre Romane „Blasmusikpop“ und „Makarionissi“ haben uns begeistert – der „Rückwärtswalzer“ tut es erst recht!

José Eduardo Agualusa: Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer

Deutsch von Michael Kegler, C.H. Beck, 22,00 €
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Die Macht der Träume ist das Thema des
 Romans von José Eduardo Agualusa:
 Jahrzehntelange Bürgerkriege und ein 
autoritäres Regime in Angola haben die Menschen desillusioniert und gelähmt zurückgelassen. Daniel Benchimol, Feuilleton-Journalist und frisch geschieden von einer Frau aus einflussreicher Familie, in dessen Ungnade er aufgrund seiner Systemkritik fällt, beschäftigt sich mit verschwundene Dingen. Er träumt von der Zukunft, von Interviews mit bekannten Persönlichkeiten und immer wieder taucht in seinen Träumen eine aparte Unbekannte auf, die schließlich auf wundersame Weise in sein Leben tritt. Hossi Apolónio Kaley, Hotelier eines kleinen Strandhotels und ehemaliger Guerillero, sammelt Informationen über seine Gäste, aus alter Gewohnheit vielleicht, denn während des Bürgerkriegs in Angola tat er schreckliche Dinge, an die er sich jedoch nicht erinnert. Auch träumt er nicht mehr, taucht aber in den Träumen anderer Menschen auf, was sogar den Geheimdienst auf den Plan ruft. Daniels Tochter Lucia hat einen ganz konkreten Traum: Sie träumt von einer besseren, gerechteren Welt, und so begehrt sie gegen das autoritäre Regime auf und schließt sich einer Gruppe revoltierender Jugendlicher und Künstler an, die im schlafwandelnden Angola nicht mehr stillhalten wollen. Ein Schritt, der alles in Bewegung setzt…

Kunstvoll verwebt der angolanische Autor José Eduardo Agualusa die Geschichten und Träume seiner Protagonisten miteinander – ein politisches, poetisches und zugleich humorvolles Buch!

William Boyd: Blinde Liebe – Die Verzückung des Brodie Moncur

Deutsch von Ulrike Thiesmeyer, Kampa, 24,00 €
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„Folge deinem Herzen“, so könnte der Titel des Romans auch lauten. Im Europa des 19. Jahrhunderts verliebt sich der lungenkranke Brodie Moncur. Er ist ein talentierter Klavierstimmer aus einem Dorf in Schottland, hat das absolute Gehör und weilt in Nizza zur Kur. Eine Begegnung mit der bezaubernden Sängerin Lika Blum stellt sein Leben auf den Kopf. Er kann sie nicht mehr vergessen – aber sie ist 
in festen Händen. Ihr Geliebter, der gefeierte Pianist John Kilbarron, wird sie nicht gehen lassen. Das Talent des Klavierstimmers Brodie wird für den cholerischen Künstler Kilbarron unverzichtbar. Beide willigen in eine gemeinsame Tournee ein, Kilbarron aus wirtschaftlichen Gründen, Brodie weil er nicht anders kann. Die Reise wird um die halbe Welt gehen. Begleitet werden sie vom Manager Malachi Kilbarron, dem kontrollsüchtigen Bruder des Pianisten. Unweigerlich verstricken sich die Protagonisten in einem Lügengeflecht. Sie müssen fliehen und wollen bleiben, sie verletzen und werden verletzt. Es ist die facettenreiche Geschichte einer obsessiven Liebe.

William Boyd beobachtet genau, er bringt seine Romanfiguren an den Rand des Möglichen. Ein leidenschaftlicher, traditioneller Geschichtenerzähler. Mit seinem fünfzehnten Roman entführt er uns in das turbulente Leben einer Künstlerepoche.

Jirí Weil: Mendelssohn auf dem Dach

Deutsch von Eckhard Thiele, Wagenbach, 22,00 €
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„Mendelssohn auf dem Dach“ ist ein Roman der Erinnerung, der Mahnung und des Widerstandes.
 Der Prager Autor Jirí Weil schrieb diese große tschechische Erzählung 
als ein Zeitzeuge, der dem Terror der Nationalsozialisten nur durch einen fingierten Selbstmord entgehen konnte. Seine Erzählung zeichnet das Bild einer von Gewalt und Tod gebrandmarkten Stadt. Die Prager Juden werden nach Theresienstadt deportiert und die Zurückgebliebenen versuchen, diesem drohenden Schicksal zu entgehen. Weil beschwört beklemmende Bilder herauf, in denen menschliche Abgründe, Resignation aber auch Mut und Humanität einander gegenüberstehen.

Der Autor entwirft beeindruckende Figuren, für die es kein Entkommen gibt. Schonungslos wird dabei Geschichte erzählt, die den Ermordeten 
und ihrem Schicksal eine Stimme verleiht. Weil, der selbst in den Nachkriegsjahren im Jüdischen Museum Prags arbeiten sollte, berichtet vom Raub jüdischen Eigentums und religiöser sowie kultureller Güter. Er verknüpft dabei die Geschichten der rechtmäßigen Besitzer mit denen seiner Protagonisten. Da ist der starke Richard Reisinger, der von den SS-Schergen gezwungen wird, das Gestohlene aus den Wohnungen zu holen und zu sortieren, da ist der Gelehrte Doktor Rabinowitsch, der die religiösen Gegenstände für eine perfide Ausstellung der Nationalsozialisten katalogisiert und zusammensetzt. Da sind die beiden jungen Schwestern Adéla und Gréta, die von dem Kommunisten Jan Kruliš in der Stadt versteckt werden, und da ist Julius Schlesinger – SS-Anwärter –, der den Auftrag erhält, die Statue Mendelssohns auf dem Dach des Rudolfinums zu zerstören. Dieser Klassiker der neueren tschechischen Literatur liegt nun endlich wieder in einer Neuausgabe im Wagenbach Verlag vor.

Barbara Honigmann: Georg

Hanser, 18,00 €
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„Mein Vater heiratete immer dreißigjährige Frauen. Er wurde älter, aber seine 
Frauen blieben immer um die dreißig.
 Sie hießen Ruth, Litzy, das war meine
 Mutter, Gisela [Gisela May, die berühmte
 Schauspielerin und Sängerin der DDR]
 und Liselotte“, schreibt die bekannte Autorin Barbara Honigmann über das bewegte Leben ihres Vaters Georg. Georg wurde 1903 
in eine assimilierte jüdische Familie geboren, er starb 1984 und wurde seinem Wunsch entsprechend auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee begraben. Er war als Korrespondent in London tätig und schloss sich jungen, meist jüdischen Menschen an, „die kommunistischen Überzeugungen, Träumen von Gleichheit und Gerechtigkeit“ anhingen. 1949 ging er mit Litzy in die Sowjetische Besatzungszone und trat in die SED ein. Im selben Jahr wurde 
die Tochter Barbara in Ostberlin geboren, heute lebt sie in einer Jüdischen Gemeinde in Straßburg. War es „naiver Glaube an die sozialistische Brüderlichkeit“, die ihn blind machte gegenüber den kommunistischen Verbrechen, fragt sich die Autorin im Nachdenken über ihren Vater.

Barbara Honigmann erzählt unaufgeregt und liebevoll von
 eigenen Erinnerungen und bezieht die Gespräche, die sie mit den Ehefrauen geführt hat, mit ein. Man hat den Eindruck, die Sprünge 
in ihrem Bericht würden den Widersprüchlichkeiten im Leben 
des Vaters entsprechen. Mit sehr genauem Blick erwähnt sie ihre Auseinandersetzungen mit ihm über politische und religiöse Fragen. Die Lebensbeschreibung des Vaters spiegelt zugleich einen wichtigen Teil der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert wieder.