Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982

Deutsch von Ki-Hyang Le, Kiepenheuer & Witsch, 18,00 €
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Prägt ein System die Wertvorstellungen der Menschen oder sollten sich die Gesetze nach den Werten der Menschen richten? Dies fragt sich die Koreanerin Kim Jiyoung, deren Leben als Frau hier geschildert wird. Als Schwester eines Bruders wird sie benachteiligt, als Schülerin erniedrigt, als Arbeitnehmerin belästigt und spätestens als einsame Hausfrau und Mutter sind ihre Möglichkeiten so begrenzt, dass sie scheinbar all ihre Träume begraben muss und an diesem Schicksal zu zerbrechen droht. Während der Fokus auf ihren individuellen Erlebnissen liegt, lernt man als Leser*in viel über die gesellschaftliche Entwicklung und über die immer noch existierende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in quasi allen Lebensbereichen.

Wer einen emotionalen Roman zum Abtauchen sucht, sucht hier vergeblich, aber diese sehr sachlich erzählte Lebensgeschichte ist ein wichtiges und kluges Buch. Es ist eine Bestandsaufnahme der kollektiven Erfahrung als Frau in dieser Welt und somit ein Beitrag zur Emanzipationsbewegung. In Korea löste es gleichermaßen Begeisterung wie Proteste aus – gut, wenn Literatur so etwas leisten kann.

Bill François: Die Eloquenz der Sardine

Deutsch von Frank Sievers, C.H. Beck, 22,00 €
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Der Physiker und Kurzgeschichtenautor Bill François lädt uns ein, mit ihm in die Welt des Meeres hinab zu tauchen und den Geschichten der Wasserbewohner zu lauschen.

Als kleiner Junge fürchtet sich der Autor vor Fischen. Das offene Meer ängstigt ihn, bis er eines Tages auf eine einsame Sardine im flachen Wasser des Mittelmeers, fernab ihres Schwarms, trifft. Sofort wird er magisch angezogen von dem schimmernd-silbrigen Fisch, fortan wird die Begeisterung für die Meeresbewohner ihn nicht mehr loslassen, und ihn später zum Wissenschaftler für Hydrodynamik und Biomechanik werden lassen.

Mit dieser persönlichen Anekdote beginnt „Die Eloquenz der Sardine“, eine gelungene Mischung aus Nature Writing und leicht verständlichem Sachbuch über marine Lebensformen. In kurzen Kapiteln treffen wir auf bekannte, unbekannte und immer wieder erstaunliche Meeresgeschöpfe: Unterhaltsam und kenntnisreich berichtet François von unterschiedlichen Kommunikationsweisen der Fische durch Düfte, Farben und Töne jenseits unserer Wahrnehmung. Er klärt uns auf, wie die Meeresbewohner dem Menschen als Inspirationsquelle dien(t)en, sowohl für unsere Mythen als auch für unsere modernen Erfindungen. Er berichtet von der zerstörerischen Ausbeutung der Fischbestände aber auch von bemerkenswerten Beziehungen zwischen Erd- und Meeresbewohnern. Ein hoffnungsvolles und poetisches Buch, das uns Lesende aufruft, den Geschichten des Meeres zu lauschen, um so die Natur wieder zu entdecken und zu erfahren.

Igor Levit/Florian Zinnecker: Hauskonzert

Hanser, 24,00 €
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Im Dezember 2019 treffen sich Igor Levit und Florian Zinnecker zum ersten Gespräch – keine herkömmliche Biografie, aber ein Buch über Igor Levit soll entstehen. Zinnecker begleitet den Pianisten bis Herbst 2020 auf dessen Konzertreisen und im privaten Leben. Als es um Kindheitserinnerungen in der Sowjetunion geht, sagt Igor: „Ich erinnere mich nicht an mich, … dann musst du meine Mutter fragen.“ 1995 kamen die Levits als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland, Igor war neun Jahre alt. Schon im Alter von drei Jahren erhielt er in Gorki den ersten Klavierunterricht. In Hannover studierte Igor an der Hochschule für Musik, Theater und Medien. Seit 2019 lehrt er dort als Professor für Klavier.

Wir Leser*innen nehmen teil am schwierigen Werdegang dieses Künstlerlebens, an einer Entwicklung zwischen Selbstzweifel und Selbstüberschätzung. Es ist die Rede von Wettbewerben, vom Studium bei berühmten Lehrern. Die Schilderung entscheidender Konzerte, die Begegnungen mit anderen Kunstschaffenden machen die Lektüre spannend und lebendig.

Und dann kam Corona! Levit konnte nicht mehr öffentlich auftreten, die Idee der Hauskonzerte auf Twitter entstand. „Ich wusste, wenn ich keine Perspektive habe, für andere zu spielen, höre ich auf zu üben, die Hauskonzerte sind für mich von existenzieller Bedeutung“, erzählt Levit. In den Gesprächen werden auch sein politisches Engagement und seine öffentliche Kritik am Antisemitismus deutlich. Igor Levit hat nicht den „Habitus eines Großkünstlers, sein Status als Ausnahmetalent beschränkt sich auf die Klavierbank“, schreibt Florian Zinnecker.

Mithu Sanyal: Identitti

Hanser, 22,00 €
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Zwei Arme mit zwei Händen und nur zehn Fingern reichen nicht aus, um all die Gründe aufzuzählen, warum „Identitti“ von Mithu Sanyal schon jetzt zu unseren absoluten Jahreshighlights zählt. Darum geht’s: Eine Professorin namens Saraswati, die für die junge Studentin Nivedita die „Übergöttin aller Debatten über Identität“ ist, entpuppt sich als weiß – sie hat ihr Dasein als Person of Colour nur vorgetäuscht. Auf den Skandal folgt ein Shitstorm sondergleichen, der nicht nur Niveditas Welt ins Wanken bringt, sondern auch elementare Fragen über Identität, Zugehörigkeit, Anspruch, Hautfarbe und Herkunft aufwirft.

Das Erschreckende und gleichzeitig Großartige an diesem Roman: Er spielt im Hier und Jetzt, verwebt Fiktion mit Realität und grätscht mit Vollgas rein in das eigene, bisherige Denkmodell. „Identitti“ ist komplex, irre klug und zum Glück auch sehr ironisch, bissig und herrlich amüsant.

Voller Euphorie möchten wir euch bitten: LEST DIESES BUCH!

Ottessa Moshfegh: Der Tod in ihren Händen

Deutsch von Anke Caroline Burger, Hanser, 22,00 €
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„Sie heißt Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche“. Einen Zettel mit diesem Text findet Vesta Guhl, die 72-jährige Ich-Erzählerin auf ihrem täglichen Waldspaziergang mit ihrem Hund. Nach dem Tod ihres Mannes und dem Verkauf des gemeinsamen Hauses ist sie in den Osten der USA gezogen und lebt nun einsam an einem kleinen See in einem schlichten Häuschen.

Obwohl es keine Leiche gibt, wird Magdas Geschichte für Vesta zur Obsession. Sie imaginiert einen Mordfall in allen Einzelheiten. Nach und nach kommen die Erinnerungen an Demütigungen, ständige Bevormundung und Affären ihres Mannes in ihrer 40-jährigen Ehe ans Licht.

Unwahrscheinliche Zufälle lassen sie immer mehr in eine eingebildete Welt abdriften. Skurril wirkt die Begegnung mit unfreundlichen Nachbarn, nachdem ihr geliebter Hund weggelaufen ist und sie dort nachfragt. Katastrophal wird die Situation, als der Hund verändert zurückkehrt und sie bedroht.

Spannend, unheimlich und mit psychologischer und sprachlicher Raffinesse wird erzählt. Das Buch liest sich wie eine kunstvoll gebaute Geschichte über Wahn, verpasstes Leben und Tod. Die Autorin, in Boston geboren, kroatisch-persischer Herkunft, wurde für ihre Romane mehrfach ausgezeichnet.

Shida Bazyar: Drei Kameradinnen

Kiepenheuer & Witsch, 22,00 €
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Ein Jahrhundertbrand und ein Artikel, der den Verdacht auf Saya richtet, eine junge Frau mit Fluchthintergrund: So startet „Drei Kameradinnen“ – ein Buch, das nicht geschrieben wurde, um uns für ein paar Stunden zu unterhalten, sondern um endlich Ungesagtes auszusprechen und unsere Perspektive mit großer Wucht gehörig zu erweitern.

Erzählt wird die Geschichte von Kasih, die unbedingt ihre Sicht der Dinge aufschreiben will und das auch ungefiltert tut. Dabei lässt sie nicht nur die Stunden vor dem Brand Revue passieren, sondern seziert auch gleich feinsäuberlich und schonungslos die Jahre ihrer Jugend. Da ist das gemeinsame Aufwachsen mit ihren Freundinnen Hani und Saya in einer kleinen, heruntergekommenen Siedlung, das Erleben von Ausgrenzung, weil die Eltern anders sprechen und nicht wie „normale“ Eltern mit ihren Kindern in den Urlaub fahren können. Kasih erzählt von einem Teenagerleben, das sich anpassen musste, statt aufzufallen, von dem Bedürfnis, laut zu widersprechen, statt immer lächelnd zu nicken. Dabei durchbricht sie immer wieder die vierte Wand und spricht uns direkt an – was uns beim Lesen automatisch aus unserer komfortablen Gedankenwelt holt und auf unbequem gute Weise dafür sorgt, unser eigenes Mindset einmal durch die Mangel zu nehmen und zu ändern.

Ein Buch für unser aller Hier und Jetzt, radikal ehrlich, extrem clever gebaut und obendrauf stellenweise auch noch außerordentlich witzig – dieser Roman macht mit seinen Lesenden, was er will. Großartig!

Jacqueline Woodson: Alles glänzt

Deutsch von Yvonne Eglinger, Piper, 22,00 €
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In Woodsons Roman „Alles glänzt“ gibt es eine zentrale Szene, in der auf den ersten Blick nicht viel passiert, die aber alles zusammenhält: Melody feiert ihren 16. Geburtstag, steigt in einem weißen Kleid die Treppe im Haus ihrer Großeltern in Brooklyn hinab und die Blicke ihrer Familie und Freunde richten sich auf sie. Das Kleid hätte eigentlich schon ihre Mutter Iris zu ihrem 16. Geburtstag tragen sollen, doch daraus wurde nichts, denn damals war sie bereits schwanger mit Melody. Die junge Iris bekam das Kind, entschied sich dann aber für ihren Bildungsweg und Melody wuchs bei den Großeltern auf.

Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven weitererzählt. So kommt Iris zu Wort, aber auch Aubrey, der Vater von Melody, und die Eltern von Iris, die wiederum ihre ganz eigenen Lebenserfahrungen und Traumata mitbringen. Woodson springt zeitlich vor und zurück, und dass sie großartig schreibt, zeigt sich nicht zuletzt im wunderbar individuellen Sound jeder Figur.

„Alles glänzt“ ist ein generationsübergreifender Roman über Klassenunterschiede, Bildung, Mutterschaft und Ambitionen. Wenn man die Bücher von Toni Morrison oder Brit Bennett gern gelesen hat, liegt man mit diesem Roman goldrichtig.

Peter Buwalda: Otmars Söhne

Deutsch von Gregor Seferens, Rowohlt, 24,00 €
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Im Nachhinein wirkt Buwaldas neuer Roman wie ein Marionettentheater der Obsessionen. Bereits sein Debüt „Bonita Avenue“ ließ uns als Lesende fasziniert und verstört zugleich zurück.

Dolf trifft auf seinen Stiefvater Otmar, als er zehn Jahre alt ist, und verfällt dessen Fürsorge und väterlichen Präsenz sofort. In dem stattlichen Haus herrscht gegenüber den Stiefgeschwistern – beide musikalisch hochbegabt und zumindest sonderbar – indes ein anderer Ton. Nicht nur diese Konstellation lässt Dolf Komplexe entwickeln, die den ganzen Roman bestimmen und insbesondere Dolfs Sexualität erschüttern.

Isabelle, ehemalige Mitbewohnerin und mittlerweile eine berühmte investigative Journalistin, trifft Dolf zufällig im Schneesturm auf der sibirischen Insel Sachalin wieder. Während Dolf als Shell-Angestellter die Vermessung von Erdölfeldern per Dynamit verkaufen möchte, hat Isabelle es auf ihre ehemalige Affäre, den Geschäftsführer der Firma „Sakhalin Energy“ Johan Tromp, abgesehen – Dolfs leiblichen Vater…

Buwalda schafft es meisterhaft, die verschiedenen Perspektiven sprachlich zu vermitteln und uns Lesende so in abgründige Sphären zu drängen.

Lana Bastašić: Fang den Hasen

Deutsch von Rebekka Zeinzinger, S. Fischer, 22,00 €
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Ein unwiderstehlicher Roman, der uns mit Karacho durch die jüngere Historie der Balkanstaaten führt – und eine Freundschaftsgeschichte, die uns mitten ins Herz trifft!

Sara und Lejla wachsen in Bosnien auf. Als Teenager sind sie unzertrennlich, obgleich sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Sara stets beherrscht, reflektiert und vergleichsweise nüchtern; Lejla wie ein Vulkan, immer intuitiv, unberechenbar und nie zu bremsen. Zusammen verbringen sie ihre Jugend, nichts kann sie erschüttern, solang die eine die andere an ihrer Seite hat. Doch als Sara nach Dublin auswandert, bricht der Kontakt jäh ab – bis sich Lejla nach zwölf Jahren mit einer sensationellen Nachricht wieder meldet: Ihr Bruder Armin, der vor Jahren in den Wirren des Bürgerkrieges verschwand, sei plötzlich in Wien aufgetaucht und Sara solle so schnell wie möglich zu ihr nach Bosnien kommen. Wie fremdgesteuert macht sich Sara auf den Weg zu Lejla. Warum kann sie ihr nicht widerstehen? Und was verbindet sie mit Armin? In einem klapprigen Opel Astra brechen beide schließlich von Bosnien gen Wien auf, um Armin – und der eigenen Vergangenheit – nachzuspüren.

Lana Bastašićs Romandebüt „gelingt, was Literatur gelingen sollte: uns hoffen lassen, dass sich Wunder erfüllen“, schreibt Saša Stanišić über „Fang den Hasen“ – allen, die seine Werke lieben, wird auch dieses Buch der jungen aus Zagreb stammenden Autorin ein Fest sein!