Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel

Wagenbach, 26,00 €
Buchcover

Die 25-jährige Japanerin Suku führt ein zurückgezogenes Leben, Freunde hat sie keine, ihre Eltern hält sie auf Abstand und auch den Kontakt zu ihren Nachbarn vermeidet sie. Nur ihr Hamster liegt ihr am Herzen. Als Suku ihren Job als Kellnerin verliert, heuert sie notgedrungen bei einem Reinigungsunternehmen an. Kein konventionelles, wie sich herausstellt, sondern eines, dass die Wohnungen sozial isolierter und einsam verstorbener Menschen (im Japanischen als Kodokushi bezeichnet) reinigt und ausräumt. Herr Sakai, ihr neuer Chef, sieht es als Pflicht an, den Verstorbenen Respekt entgegenzubringen, und spricht vor jedem Betreten einer Wohnung ein kleines Gebet und bittet um Einlass. Die neue Arbeit ist nicht nur für Sukus Magen herausfordernd, auch muss sie sich mit ihren Kolleg:innen und weiteren neuen Bekanntschaften in ihrem Umfeld auseinandersetzen: Die Begegnungen mit den Toten und den Lebenden werden Sukus Leben für immer verändern.

Ein unglaublich tröstliches und humorvoll erzähltes Buch über Einsamkeit und Tod, über Gemeinschaft und Leben, über Umsicht und Achtung. Ein Buch, das uns Lesende ein bisschen glücklicher macht.

Olga Tokarczuk: Empusion

Deutsch von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein, Kampa, 26,00 €
Buchcover

Im Herbst 1913 reist der junge Lemberger Ingenieursstudent Mieczysław Wojnicz in den schlesischen Luftkurort Görbersdorf, um seine fragile Gesundheit im dortigen Lungensanatorium zu heilen. Untergebracht in Wilhelm Opitzens „Gasthaus für Herren“ lernt er die anderen Logierenden bei den allabendlichen Zusammenkünften kennen. Begleitet vom reichlich ausgeschenkten lokalen Likör „Schwärmerei“, diskutieren die Herren kontrovers bedeutende Themen wie Religion, Philosophie und Staatskunst und kommen letztendlich immer wieder auf ein zentrales Thema zurück, in dem sie alle übereinstimmen: die Minderwertigkeit der Frau.

Kurz nach Wojniczens Ankunft erhängt sich die Frau des Gastwirts auf dem Dachboden. War es wirklich Selbstmord? Des nachts wecken Mieczysław immer wieder Geräusche vom Dachboden und schon bald hört er die unheimlichen Geschichten über alljährliche Todesfälle junger Männer, die in Stücke zerrissen im Wald aufgefunden werden. Ist er noch sicher?
Olga Tokarczuks Roman „Empusion“ ist eine Hommage an Thomas Manns „Zauberberg“ und gleichzeitig eine raffinierte, humorvolle Weiterbearbeitung der Motive. Ein Schauerroman, der sich über Genre- und Gendergrenzen hinwegsetzt.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Deutsch von Renate Schmidgall, Suhrkamp, 25,00 €
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Juni 1941, wenige Tage vor dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion, treffen in einem polnischen Grenzdorf am Fluss Bug deutsche Soldaten, Dorfbewohner, polnische Partisanen und jüdische Flüchtlinge aufeinander. Es herrscht Gewalt und Grausamkeit. Lubko, der Fährmann, rudert nachts Flüchtende und Händler gegen Bezahlung vom westlichen Ufer auf die andere Seite, wo russische Soldaten patrouillieren. Auch Max und Doris, die jüdischen Geschwister, wollen hinüber auf die sowjetische Seite und weiter bis zum Amur. Es ist Mondschein und der Fährmann weigert sich.

Stasiuk beschreibt mit großer Empathie und psychologischer Genauigkeit die Ängste und die Hoffnungen der Menschen in Kriegszeiten. Gebannt folgen wir Lesende den Geschichten von berührenden und erschreckenden Schicksalen. Eingebaut ist eine zweite Ebene, in der der Erzähler viele Jahre nach dem Krieg mit seinem dementen Vater in das ehemalige Grenzgebiet fährt und versucht, Erinnerungen an Orte und Erlebnisse wachzurufen; einiges ist verändert, doch der Vater erkennt nichts wieder. Beeindruckend ist die Kunst des Autors, Naturschilderungen sinnlich durch Gerüche, Töne und Farben zu beleben und daneben bei der Schilderung der menschlichen Handlungen eine atmosphärische Dichte und atemlose Spannung aufzubauen. Ein großartiger Roman des polnischen Autors, der zu den wichtigsten europäischen Stimmen der Gegenwartsliteratur zählt.

Rebecca F. Kuang: Babel

Deutsch von Alexandra Jordan und Heide Franck, Eichborn, 26,00 €
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Lust auf einen historischen Roman voller Magie und Ideenreichtum? „Babel“ erzählt die Geschichte von Robin Swift, einem Waisenjungen aus Kanton, der 1828 in ein alternatives England gebracht wird und schließlich am „Königlichen Institut für Übersetzung“ der Oxford University, das auf der ganzen Welt auch als „Babel“ bekannt ist, zu studieren beginnt. Er findet sich im Zentrum des Wissens und der Macht wieder, erfährt allerdings auch, wie das britische Empire die Kunst des Übersetzens sehr erfolgreich für die eigenen Zwecke nutzt. Bald stellen Robin und einige seiner Mitstudierenden die eigene Arbeit am Institut in Frage, geraten zwischen die Fronten, und begehren gegen die koloniale Herrschaft auf.

Dark Academia, historische Fantasy und Übersetzer:innen mit Heldenmut – nicht umsonst hat die Autorin R. F. Kuang für diesen über 700 Seiten starken Roman sowohl den Nebula Award als auch den British Book Award gewonnen. „Babel“ ist ein atmosphärisches, ungemein scharfsinnig erzähltes (und sehr gut übersetztes) Buch über historisch gewachsene Machtstrukturen, Sprache und Freundschaft. Macht euch auf ein berauschendes Leseerlebnis gefasst!

Jürgen Serke: Die verbrannten Dichter

Wallstein, 38,00 €
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90 Jahre ist es her, da gingen die Bücher einer ganzen deutschen Schriftsteller:innen-Generation in Flammen auf – so vieles, was in der Weimarer Republik gedichtet wurde, galt im Dritten Reich als „undeutsch“ und „entartet“ und sollte mit aller Macht aus dem Bewusstsein der Bürger:innen getilgt werden. Die Werke Irmgard Keuns, Alfred Döblins, Gertrud Kolmars, Walter Benjamins und vieler anderer waren von der großen Bücherverbrennung im Mai 1933 betroffen.

Dem Literaturwissenschaftler Jürgen Serke ist es zu verdanken, dass die damals gebrandmarkten Autor:innen heute wiederentdeckt und teils präsenter denn je sind. Sein bereits 1977 erschienenes Standardwerk „Die verbrannten Dichter“ liegt nun in einer überarbeiteten und um zahlreiche Abbildungen erweiterten Neuausgabe vor – eine wahre Fundgrube nicht nur für literaturhistorisch interessierte Leser:innen und zugleich ein Mahnmal gegen jedwedes Vergessen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft.

Verena Keßler: Eva

Hanser Berlin, 24,00 €
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Ein Buch, das uns Lesende vor ein (vielleicht unlösbares) Rätsel stellt – und das unsere Empathie für andere Lebensentwürfe wachkitzelt, zum Wachsen bringt und uns damit wieder einmal um neue Perspektiven reicher macht. Das ist und kann „Eva“ von Verena Keßler, die sich in ihrem neuen Roman der großen Frage widmet: Was spricht heute für, was gegen eigene Kinder?

Wir folgen vier Frauen, deren Wege sich kreuzen. Die eine mit losem Kinderwunsch, doch zweifelnd, die zweite eine Vertreterin einer radikalen Klimaschutzthese, die dritte eine scheinbar glückliche Dreifachmutter – und die vierte Frau, die ihr Kind verloren hat. Was diese Fragmente dabei so großartig macht, ist das Unerzählte, das Ausgelassene, das Raum lässt für eigene Gedanken und den Moment, in dem man still nickend zustimmen möchte. Ein wunderbarer, kurzweiliger Text, der ein elementares Thema unserer Zeit feinfühlig und präzise auf den Punkt bringt. Bitte lesen, lieben und dann darüber sprechen!

Sabrina Janesch: Sibir

Rowohlt Berlin, 24,00 €
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Sibirien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Dorthin wurden deutsche Zivilisten aus dem polnischen Wartheland verschleppt. Auch der zehnjährige Josef Ambacher und seine Familie werden von der Sowjetarmee als Zivilgefangene in die Ost-Gebiete Sibiriens, heute Nord-Kasachstan, deportiert. Nach den Qualen des Transports findet sich die Familie völlig erschöpft und aus der Heimat fortgerissen in der kasachischen Steppe wieder. In einem kleinen Dorf suchen sie Unterschlupf und kämpfen fortan darum, sich als Deutsche in der fremden Umgebung, die geprägt ist von der zerstörerischen Kraft der Natur und der Härte und Kälte der Dorfbewohner, ein neues Heim aufzubauen. Es ist die Freundschaft zu Tachawi, einem kasachischen Jungen, und zu seinem russischstämmigen Lehrer, mit dem das entwurzelte Kind Josef in der unwirklichen und mythischen Welt Sibiriens doch noch so etwas wie Kindheit und Wärme erfahren darf. Diese Kindheit verknüpft Sabrina Janesch in ihrem beeindruckenden Roman mit einem zweiten Erzählstrang: dem Aufwachsen von Leila, der Tochter Josefs, in Niedersachsen knapp 45 Jahre später. Auf zwei Zeitebenen erzählt sie abwechselnd und bildgewaltig von zwei Kindheiten, von Vater und Tochter, wobei sie immer wieder Analogien herstellt.

Ein reicher Roman voller starker Bilder, in dem „Bäume vor Kälte platzen“ und das „lange Ohr der Steppe“ mithört. Es geht um Heimat, Familie, Vergangenheit und Freundschaft. Nicht zuletzt wurzelt „Sibir“ in der eigenen Familiengeschichte der Autorin.

Louise Erdrich: Jahr der Wunder

Deutsch von Gesine Schröder, Aufbau, 26,00 €
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Minneapolis im November 2019. Tookie, Ex-Junkie und Buchhändlerin mit reichlich Knasterfahrung, hat während ihrer Haftstrafe eigentlich nur eins richtig gelernt: Lesen – und zwar mit einer Intensität, die an Wahnsinn grenzt. Und so sind es die Bücher, die sie immer weiter retten, auch 2020 im Jahr der Wunder, als Flora, Lieblingskundin und größte Nervensäge aller Zeiten, nach ihrem Ableben weiter in der Buchhandlung herumspukt. Fallen anfänglich nur Bücher aus den Regalen, so weitet sich das nicht fassbare Phänomen im Lauf des Jahres dermaßen aus, dass Tookie sich ernsthaft fragen muss, ob Flora vielleicht noch eine Rechnung offen hat.

Louise Erdrich hat sich als Autorin in vielen ihrer Bücher mit indigenem Leben und indigener Geschichte beschäftigt. Herkunft und ob wir uns ihr stellen, Schuld und Vergebung sind die Themen dieses Buches. Dazu kommen die Geister, die uns umtreiben, und das sind eben nicht nur die nervigen Floras, sondern auch die, die uns lebendig machen: die Geister unserer Lieblingsbücher. Und so ist „Jahr der Wunder“ auch ein Buch, das hundert andere Bücher empfiehlt. Und das Lust auf hundert andere macht. Tookies komplett subjektive Lieblingsbücherliste am Ende des Buches, als Anhang und Goodie, macht glücklich. Und ein wenig betrunken. So wie das ganze herrliche Buch.

Jakob Guanzon: Überfluss

Deutsch von Detlind Falk, Elster, 25,00 €
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Jedes Kapitel ist mit einem Dollarbetrag überschrieben. Henry hat selten viel und nie genug für sich und seine kleine Familie. Heute ist Juniors achter Geburtstag und die beiden fahren zu McDonald´s – freie Auswahl! Anschließend geht es zur Feier des Tages statt in den Truck in ein Motel mit einem richtigen Bett und einer Badewanne. Und dann hat Henry ja noch das alles entscheidende Vorstellungsgespräch am nächsten Morgen.

Bereits früh in seinem Leben ist er falsch abgebogen. Statt sich an Intelligenz und dem mahnenden Beispiel seiner Eltern zu orientieren, zieht Henry die sensorischen Einflüsse vor und landet schließlich drogenabhängig im Knast. Dank harter Arbeit und seiner großen Liebe Michelle schaffen die beiden es immerhin in einen trostlosen Trailerpark. Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer, denn die Vergangenheit lässt sich einfach nicht abschütteln.

„Überfluss“ ist eine gnadenlose Abrechnung mit Amerikas Sozialsystem und ein Blick von unten auf den amerikanischen Traum. Jakob Guanzon gelingt es mit seiner Sprache, uns Lesende durchgängig, Satz für Satz, Zärtlichkeit und Zorn spüren zu lassen. Ständig möchten wir die drei Protagonist:innen beschützen, warnen, sie durchschütteln und bewahren. Unmöglich, das Buch wegzulegen! Zum Glück.

Herausgegeben von Matthias Kniep und Sonja vom Brocke: Jahrbuch der Lyrik 2023

Schöffling & Co., 24,00 €
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Seit über 40 Jahren erscheint das Jahrbuch der Lyrik. Für viele Jahre war Christoph Buchwald der Herausgeber, seit 2022 ist Matthias Kniep an seine Stelle getreten. Die Anthologie präsentiert die Bandbreite und den großen Reichtum der deutschsprachigen Gegenwartslyrik.

In jedem Jahr wird ein/e Lyriker/in als Mitherausgeber/in dazugewonnen.
In diesem Jahr ist es die Dichterin und Übersetzerin Sonja vom Brocke.
Gemeinsam haben sie aus vielen Einsendungen von Lyrikerinnen und Lyrikern, jungen und älteren, bekannten und unbekannten, die besten Gedichte ausgewählt (z.B. von Nora Gomringer, Jan Wagner, Christoph Wenzel). Diese Anthologie möchte zeigen, was in der Lyrik heute möglich ist, in welch vielfältigen Ausdrucksformen geschrieben wird: Da steht Klassisches neben Experimentellem, freie Rhythmen neben Versen in Reimform. Abschließend berichten die Herausgeber/innen über ihre Vorgehensweise bei der Auswahl der Gedichte. Und im Anhang folgt ein Verzeichnis der Namen der Autor/innen und Quellenangaben.
Für Lyrik-Fans!