Zadie Smith: Betrug

Deutsch von Tanja Handels, Kiepenheuer & Witsch, 26,00 €
Buchcover

England 1873. Elizabeth Touchet lebt bei ihrem angeheirateten Cousin, dem mittlerweile erfolglosen Schriftsteller William Ainsworth, für den sie in den vergangenen Jahrzehnten den Haushalt geführt hat, erste Leserin seiner Manuskripte und mitunter auch Geliebte war. In den literarischen Zusammenkünften im Hause ihres Cousins, an denen auch Charles Dickens teilnahm, war sie keine passive Zuhörerin, sondern erstaunte und irritierte die ausschließlich männlichen Anwesenden mit ihren eigenwilligen Meinungen zur Literatur und Gesellschaft. Doch die glücklichen Zeiten des Wohlstands sind vorbei: Ainsworth hat die junge Küchenhilfe Sarah geheiratet, der literarische Freundeskreis hat sich zerstritten. Und ganz England spricht nur noch über den Fall Tichborne: Arthur Orton, ein australischer Metzger, behauptet, der bei einem Schiffsunglück ertrunkene Sohn des Adelsgeschlechts Tichborne zu sein und will sein Erbe antreten.

Elizabeth begleitet Sarah, eine glühende Anhängerin Ortons, zum Prozess. Fasziniert ist sie von einem Zeugen, der von der wahren Identität Ortons überzeugt ist: dem ehemaligen, jamaikanischen Sklaven und späteren Hausdiener Andrew Bogle, dessen Geschichte und Leidensweg geschildert wird.

Zadie Smith nimmt uns mit ins viktorianische Zeitalter: Mit einer Prise Humor und scharfsinnigen Dialogen lässt sie ihre Protagonistin Elizabeth das widersprüchliche Treiben ihrer Zeit kommentieren, das heute noch genauso aktuell ist wie damals: Populismus, Unterdrückung von Menschen, die gespaltene Gesellschaft, arm und reich.

Sylvie Schenk: Maman

Hanser, 22,00 €
Buchcover

„Unsere Mutter, die sprach nur mit der Wäsche und mit Babys“, so beginnt der Text der Autorin Sylvie Schenk über ihre Mutter Renee, in dem sie versucht, ihr näher zu kommen. Schonungslos beschreibt sie das schwierige Verhältnis der Mutter zu ihr und den fünf Geschwistern. Im Lebensweg ihrer „Maman“, deren Mutter bei der Geburt starb, sucht die Autorin den Mangel an Gefühlen und die Beschädigungen: Renees Mutter wurde ungewollt schwanger, das Kind kam nach einigen Monaten in einem staatlichen Kinderheim auf einen Bauernhof, wo es ständig Angst vor Kühen und vor Hunden hatte. Erst als Schulkind wurde es adoptiert und erlebte eine liebevolle Familie, bis „Maman“ als junge Frau in einer arrangierten Ehe sofort schwanger wurde.

Sylvie Schenk wechselt zwischen dem Erzählen ihrer eigenen Kindheit und dem des Lebens der Mutter und übt damit zugleich Kritik an der Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft. Nicht alles erinnert die Autorin genau, aber Gedanken und Phantasie füllen die Leerstellen aus. „Mamans Leben und mein Leben sind miteinander verflochten wie zwei unterschiedlich gefärbte Wollfäden im schlecht gestrickten Pullover“, schreibt sie. Mit Empathie und Spannung folgt man diesen Geschichten. Es geht um Herkunft und Milieu von den Vierzigern bis in die Sechzigerjahre in Frankreich. In kurzen, thematisch strukturierten Kapiteln wird die Biographie von „Maman“ erzählt. Sylvie Schenk ist eine deutsch-französische Schriftstellerin, geboren 1944 in Chambery, sie lebt seit 1966 in Deutschland.

Saleit Shahaf Poleg: Bis es wieder regnet

Deutsch von Ruth Achlama, Blumenbar, 23,00 €
Buchcover

Im kleinen Moschaw im fruchtbaren Jesreeltal regnet es nicht mehr: Eine Katastrophe, denn der kleine Flecken im Norden Israels lebt seit den Gründungstagen des Landes von der Landwirtschaft. Nun, über 50 Jahre später, hat sich viel verändert, sehr zum Ärger der Alteingesessenen; Neubaugebiete werden erschlossen, Fremde lassen sich in der scheinbaren Idylle nieder.

Nie wollte sie in dieses Bauernkaff zurückkehren, hatte sich Jael geschworen, nun kommt sie, hochschwanger und nach gescheiterter Ehe, zurück an den Ort, den ihre Familie seit den Gründungsjahren bewohnt: zu ihren Großeltern, die sich gegenseitig verabscheuen, in das Haus ihrer verstorbenen Großtante, aus dem sie eine Pension machen will. Auch ihre Schwester Gali, die in Kanada lebt, ist auf dem Weg in die Heimat, um ihre Hochzeit dort zu feiern. Doch nichts läuft wie geplant, denn die Geheimnisse und Verletzungen der gesamten Familie Steinmann und die des Dorfes, die allzu oft unterdrückt wurden, drängen an die Oberfläche.

Aus unterschiedlichen Perspektiven erzählend, führt uns Saleit Shahaf Polegs Debütroman in den Kosmos eines israelischen Dorfes während der drei traditionellen Monate der Aussaat und des Regens. Er eröffnet uns einen Blick in die Vergangenheit und Gegenwart der israelischen Gesellschaft.

Tom Hillenbrand: Die Erfindung des Lächelns

Kiepenheuer & Witsch, 25,00 €
Buchcover

Tom Hillenbrand beleuchtet in seinem Buch „Die Erfindung des Lächelns“ eine faszinierende Facette der Geschichte: Die „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci war tatsächlich zwei Jahre verschwunden – eines Morgens hing das Bild im Pariser Louvre nicht mehr an seinem Platz. Dies wurde gar nicht sofort bemerkt und so ist hier schon viel Raum für Phantasie darüber, was wohl passiert sein könnte. Tom Hillenbrand lässt uns den Protagonistinnen über die Schulter schauen und so kommen wir Kapitel für Kapitel der Lösung näher. Oder auch nicht…

Die Agierenden dieser Geschichte sind bedeutende Persönlichkeiten, deren Namen und Werke wir alle kennen: Pablo Picasso, Isadora Duncan, Gertrude Stein, Aleister Crowley, Igor Strawinsky, um nur einige zu nennen. Die Suche nach dem Bild und dem Verbrecher, der es entwendet hat, wird von Commissaire Lenoir geleitet. Wird er die „Mona Lisa“ finden und jemandem die Tat nachweisen können?

Eine wahnsinnig kluge historische Fiktion, die genüssliche Unterhaltung bietet und uns auch noch lange beschäftigt, nachdem die Buchdeckel zugeklappt sind.

Lea Singer: Die Heilige des Trinkers

Kampa, 24,00 €
Buchcover

Im Mittelpunkt dieses biographischen Romans steht Andrea Manga Bell, geboren 1902 als Tochter einer Hamburgerin und eines afro-kubanischen Pianisten. Früh verheiratet mit einem Prinzen aus Kamerun, ließ dieser sie nach der Trennung mit ihren zwei Kindern 1922min London zurück. Manga Bell kehrte heim nach Deutschland und arbeitete für eine Zeitschrift des Ullstein Verlags in Berlin. Dort lernte sie später den Schriftsteller Joseph Roth kennen, wurde seine Lebensgefährtin und redigierte die wichtigsten Romane und Schriften des Österreichers. 1933nemigrierten beide nach Frankreich.

Lea Singer schreibt hier jedoch keine trockene Biographie, vielmehr ist ihr Roman ein literarischer Hochgenuss. Schon auf den ersten Seiten atmen wir Lesenden die Atmosphäre der damaligen Zeit, flanieren durch die Cafes, Salons und Luxushotels in Berlin, Paris, Sanary-sur-Mer und Nizza. Dabei lernen wir interessante Details über damalige literarische Zirkel und die politische Zeit kennen, erzählt mit einer Leichtigkeit in der Sprache, die den Schriftsteller:innen der Zeit in nichts nachsteht.

Besonders ist die Perspektive Manga Bells, mit der es Singer gelingt, einen tieferen Blick auf eine starke Frau und deren Beziehung zu einem alkoholsüchtigen und darin genialen Schriftsteller zu werfen. Wie Roth trotz Erfolges das Geld zum Fenster rauswarf und versoff, Schulden anhäufte und Freunde wie Stefan Zweig ständig um Geld anflehte, dabei gleichzeitig die Kinder Manga Bells bei sich aufnahm und deren Ausbildung vorantrieb, ist einfach meisterhaft erzählt.

Agatha Christie: Und dann gab’s keines mehr

Deutsch von Eva Bonne, Atlantik, 22,00 €
Buchcover

Zehn Personen, Frauen und Männer, erhalten aus unterschiedlichem Anlass eine Einladung, die sie auf eine abgelegene Insel vor der Küste Devons führt. Was zunächst nach einem reizenden Kurzurlaub klingt, entwickelt sich rasch zu einem Alptraum. Der Gastgeber und Eigentümer der Insel, ein gewisser U .N. Owen, ist wider Erwarten noch nicht eingetroffen und lässt sich entschuldigen. Auf seinen Wunsch hin wird den Gästen jedoch nach dem Abendessen eine Schallplatte vorgespielt: Es ertönt eine Stimme, die jeden der Anwesenden beschuldigt, das Leben eines oder mehrerer Menschen auf dem Gewissen zu haben. Der Schock ist groß und steigert sich noch, als kurz darauf einer von ihnen leblos zu Boden sinkt. Auch das rettende Boot taucht am nächsten Morgen nicht auf und so ist die kleine Gruppe auf sich gestellt. Gleich einem Abzählreim kommt ein Gast nach dem anderen um. Doch niemand außer ihnen ist auf der Insel, der Mörder kann also nur einer der Verbleibenden sein … Wird es gelingen, ihn rechtzeitig zu enttarnen?

Agatha Christies „Und dann gab’s keines mehr“ wurde erstmals 1939 auf Englisch veröffentlicht und gilt als der meistverkaufte Kriminalroman aller Zeiten. Im Atlantik Verlag erscheint jetzt diese gelungene zeitgemäße Neuübertragung ins Deutsche von Eva Bonne.

Myriam Leroy: Rote Augen

Deutsch von Daniela Högerle, Edition Nautilus, 22,00 €
Buchcover

Dieser autofiktionale Roman der belgischen Journalistin und Autorin Myriam Leroy lässt uns Lesende so aufgewühlt und fassungslos zurück, wie kaum ein anderer. Keine unbeschwerte Lektüre, aber eine Geschichte, die zwingend erzählt und gelesen werden muss.

Protagonistin des Buches ist eine erfolgreiche Radio-Journalistin mit eher linker Weltanschauung, die gern gesellschaftskritische Themen anpackt. Ihre Sendungen werden aufgezeichnet und gestreamt, was ihr eine nicht geringe öffentliche Sichtbarkeit und Social Media-Reichweite verschafft. Dann kommt eine Freundschaftsanfrage. Von Denis. Familienvater, bürgerlicher Typ, ein Bekannter eines Bekannten. Und was mit scheinbar harmlosen Komplimenten eines „Serial Likers“ beginnt, entwickelt bald eine unangenehme Übergriffigkeit. Die Betroffene geht zunächst in den Dialog und versucht, die Sache irgendwie zu managen, zumal sie sich von allen Seiten anhören muss, dass so etwas zwar unschön sei, aber dazugehöre, wenn man im Licht der Öffentlichkeit stehe. Als schließlich doch ihr Entschluss folgt, Denis zu blockieren, schlagen seine zunehmend geschmacklosen Annäherungsversuche in puren Hass um. Und er hetzt eine misogyne Follower-Meute auf sie, die absolut keine Tabus kennt.

Ein Roman über Cyber-Mobbing, Sexualisierung und Ohnmacht, über die fatalen Folgen von Hasskommentaren im Netz und was diese bei Betroffenen auszulösen vermögen. Myriam Leroy weiß, wovon sie schreibt, sie hat es am eigenen Leib erfahren. Und ein geniales Buch verfasst, das uns – auch dank einer glänzenden Übersetzung – mit unglaublicher Wucht einholt!

Anna Katharina Laggner: Fremdlinge

Residenz, 24,00 €
Buchcover

Es gibt Bücher, an die ich sofort denke, wenn ich an „Wohlfühlliteratur“ denke. Und dann gibt es zum Glück auch Bücher wie „Fremdlinge“. Ein Buch, das mit seinem Inhalt zunächst gar nicht nach Komfort, Eskapismus und Lese-Wellness klingt. Eine überraschende Zwillingsschwangerschaft und das innerliche Aufreiben beim Nachdenken über eine potenzielle Abtreibung, das Abwägen von Vor- und Nachteilen einer (erneuten) Mutterschaft, das Reflektieren über eine sich verschiebende Paarbeziehung, die Veränderungen an einem Frauenkörper, der mit dem wachsenden Babybauch gleichzeitig auch öffentliches Begutachtungsobjekt wird. Und doch traue ich mich zu sagen, dass dieser Text einer ist, mit dem es sich wohlfühlen lässt. Denn Anna Katharina Laggner schreibt über die Gleichzeitigkeit von Zweifel und Euphorie, von Übergriffigkeit, gesellschaftlichen Fehlstellungen und absurd-komischen Yoga-Stunden. Es tut weh, den Gedanken der Erzählerin zu folgen – es tut aber gut, sich zwischen den Zeilen wiederzufinden.

„Fremdlinge“ wirbelt in uns Lesenden Fragen auf, lässt uns im nächsten Moment aber auch zustimmend nicken und den Bleistift zücken, um euphorisch unterstreichend über so viele treffsichere, pointierte und sprachlich großartige Stellen zu fliegen. „Fremdlinge“ ist also, kurz gesagt, ein Text, der uns beim Lesen auffängt. Und dieser Effekt ist meines Erachtens einer, der sich ohne Zweifel einer wirklich guten „Wohlfühlliteratur“ zuordnen lässt.

Maja Haderlap: Nachtfrauen

Suhrkamp, 24,00 €
Buchcover

Die Geschichte der „Nachtfrauen“ ist die Geschichte von Anni und Mira, von Mutter und Tochter. Beide gehören zur slowenischen Minderheit in Südkärnten. Mira ist in dem Ort Jaundorf zusammen mit ihrem Bruder aufgewachsen, aber zum Studieren nach Wien gezogen. Nun kehrt sie zurück, um ihrer Mutter Anni beim Auszug aus dem Familienhaus zu helfen – hier beginnt der Roman.

In ihrem alten Kinderzimmer verdichten sich bei Mira die Erinnerungen an ihre Kindheit: an das Schweigen zwischen ihr und der Mutter, dem Großwerden unter den Vorgaben der katholischen Kirche, dem viel zu frühen Tod des Vaters. Aber sie ist nicht die Einzige, die mit den Geistern der Vergangenheit ringt. Auch bei Anni bricht sich das Nicht-Vergangene nun Bahn, und die alten ungelösten Konflikte mit ihrer eigenen Mutter Agnes verschaffen sich neuen Raum. Eine Mutter, die nur Befehle, Belehrungen und Gebete kannte, „der Rest war Schweigen, ein Schweigen, von dem Anni glaubte, dass es in Stein gemeißelt sei“.

Damit liest sich der Roman als ein spannendes Porträt dreier Frauengenerationen. Einfühlsam lässt Maja Haderlap ihre Protagonistinnen zu Wort kommen. Sie findet dafür eine ehrliche und eindringliche Sprache. Das Ganze eingebettet in den historisch-politischen Kontext und die Konflikte in der Grenzregion Österreich/Slowenien macht „Nachtfrauen“ zu einer mehr als lohnenswerten Lektüre.