Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst

S.Fischer, 21,00 €
Buchcover

Eine junge Frau spaziert durch die Straßen von New York und isst sorglos eine Banane – und fühlt sich plötzlich zugehörig. Denn inmitten all dieser anderen schwarzen Menschen ist sie endlich unsichtbar.

Die namenlose Erzählerin weiß, dass sie privilegiert ist. Trotzdem weiß sie auch, dass es ihr als schwarze Frau, als Tochter einer Ex-Punkerin aus der DDR und ohne Vater im Hier und Jetzt scheiße geht. Sie erzählt von der eigenen Angst, vom Unverständnis anderer und öffnet den Blick in ein kaputtes Herz, nachdem sich der eigene Zwillingsbruder vor einen Zug geworfen hat. Sie geht mit sich selbst in ein Zwiegespräch, das einem rasanten Verhör gleicht, bei dem am Ende keiner mehr weiß, wer gut oder böse ist. Sie reist nach New York und Vietnam, um ein Zuhause zu spüren und Liebe zu finden. Und sie besucht ihre Mutter, zu der sie eigentlich am liebsten keine Beziehung hätte – oder lieber eine bessere?

Olivia Wenzel schreibt in ganz eigenem Stil über Rassismus, Angst, Freundschaft und Familie. Und das so vielschichtig, real und wütend, so bedrückend und gleichzeitig erschreckend humorvoll. Sie thematisiert Herkunft und Verlust, Einsamkeit und Liebe. „Wo bist du jetzt?“ ist die zentrale Frage im Buch, die auch automatisch auf uns Leser*innen übergreift und uns unmittelbar hineinzieht in den Sog, den die Autorin mit ihrem Debüt kreiert. Kreativ, aktuell und absolut wichtig – dieses Buch hat so viel Gutes und jeder sollte es lesen.

Jonathan Coe: Middle England

Deutsch von Deutsch von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs, Folio Verlag, 25,00 €
Buchcover

„Wie konnte es nur dazu kommen?“ Das fragen sich die Protagonist*innen von Jonathan Coes neuem Roman „Middle England“. Sie verstehen die Welt nicht mehr, als die Mehrheit der Briten für den Austritt ihres Landes aus der EU stimmt. Wir begleiten England und die Hauptfiguren des Buches von 2010 bis 2018 auf dem Weg in den Brexit, folgen ihnen bei ihren zwischenmenschlichen Begegnungen, ihren Erfolgen und ihren Fehlschlägen.

Benjamin Trotter, ein erfolgloser Autor, zieht in eine alte Wassermühle in den Midlands, um sich ganz seinem Opus Magnum zu widmen. Er kümmert sich um seinen alten Vater, der über den Niedergang des Vereinigten Königreichs schimpft. Benjamins Nichte Sophie verlässt ihr geliebtes, multikulturelles London, um als Kunsthistorikerin in Birmingham zu arbeiten. Sie heiratet einen Mann, der ein bisschen zu sehr an seiner xenophoben Mutter hängt. Doug, überzeugter Labour- Anhänger und politischer Journalist, lebt im überteuerten Chelsea und hat die Nase voll vom Luxus und den politischen Spielchen im Land.

Jonathan Coe zeichnet ein amüsantes Gesellschaftspanorama Großbritanniens in den Jahren vor dem Brexit. Mit subtilem Humor zeigt er die tiefen Risse auf, die sich durch die britische Nation ziehen: die provinzielle Mittelklasse, die sich gegen Veränderungen sperrt, und die gut ausgebildete Elite, die die Spaltung nicht wahrhaben will. Und vielleicht wartet am Schluss, trotz des Brexits, doch noch ein gutes Ende auf die Leser*innen…

Julia Voss: „Die Menschheit in Erstaunen versetzen“. Hilma af Klint

S.Fischer, 25,00 €
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Vor genau sieben Jahren lief im Hamburger Bahnhof in Berlin die Ausstellung „Hilma af Klint. Eine Pionierin der Abstraktion“, die Schau einer schwedischen Künstlerin, von der viele bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gehört hatten. Die teils scheunentorgroßen Bilder in leuchtenden pastelligen Farben waren im wahrsten Sinne des Wortes eine Wucht. Die Informationen zum Leben und Werk dieser Künstlerin allerdings gering. Dem hilft der S. Fischer Verlag nun ab. In diesem Frühjahr ist eine umfangreiche Biographie über Hilma af Klint erschienen und die Autorin Julia Voss hat, um der Künstlerin und ihrem Werk gerecht zu werden, eigens dafür Schwedisch gelernt.

Der Nachlass der Künstlerin ist enorm: 26.000 Seiten Text und 1300 Gemälde. Hilma af Klint, geboren 1862, entscheidet sich mit 17 Jahren als Künstlerin zu leben. Sie ist ein Freigeist und sagt von sich selbst: „Ich bin so klein, so unbedeutend, aber durch mich fließt eine solche Kraft, dass ich vorwärts muss“. Sie bricht mit den Konventionen der Zeit, beschäftigt sich intensiv mit Anthroposophie, Spiritualität, besucht Séancen und lässt sich leiten von Stimmen und Visionen. 1906 beginnt sie abstrakt zu malen, viele Jahre vor Kandinsky, der doch als Bereiter dieser Stilrichtung gilt. 44 Jahre alt ist sie zu diesem Zeitpunkt. Sie weiß um das Außergewöhnliche ihres neuen Wegs und sagt von sich selbst: „Die Versuche, die ich unternommen habe, werden die Menschheit in Erstaunen versetzen“. Ein schönes und großes Buch. Wir dürfen staunen!

Leona Stahlmann: Der Defekt

Kein & Aber, 22,00 €
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Was geht in einer jungen Frau vor, die immer mehr realisiert, dass sich ihre Gefühlswelt meilenweit von der ihrer Altersgenoss*innen unterscheidet? Die anders spürt, anders verlangt, anders liebt? Mina empfindet Lust an Schmerzen. Als sie mit ihrem Mitschüler Vetko auf jemanden trifft, der sie zu verstehen scheint und dazu bringt, Gefühle radikal auszuleben, zerreißt es sie zunehmend – die Momente des Glücks sind ebenso gewaltig wie die Bedenken, sie zuzulassen. Immer wieder bedrängt Mina die zentrale Frage, die dem Buch seinen Titel gibt: Ist das ein „Defekt“?

Mina und Vetko wachsen in der Provinz auf, im Schwarzwald, mitten im Grünen und fernab jeglicher urbaner Szene-Milieus, die vielleicht Sicherheit gewähren könnten. Die Natur ist zentrales Motiv im Buch und äußerst ambivalent. Sie bietet Schutz und ist zugleich Bedrohung: „Die Bäume hatten sich aufgereiht, der Ginster die Lücken zwischen den Stämmen geschlossen und das Moos sich in die zugigen Ritzen der Türschwelle gedrängt und hatten Vetko und ihr den Weg nach draußen verstellt, zu den anderen.“ – Mina verlässt diese erdrückende „Idylle“ schließlich und beginnt ein Studium. Vetko bleibt. Und ist auch noch da, als Mina nach Jahren zurückkehrt…

Die Sprachgewalt, mit der Minas Geschichte erzählt wird, ist beeindruckend. Und dass es sich dabei um ein Debüt handelt, lässt uns die Augen reiben. Die Hamburger Autorin Leona Stahlmann hat einen Roman geschrieben, dessen Lektüre enorm lange nachhallt. Ein Buch, das bleiben wird. Ganz sicher.

Patti Smith: Im Jahr des Affen

Deutsch von Deutsch von Brigitte Jakobeit, Kiepenheuer & Witsch, 20,00 €
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„Eine tödliche Torheit kommt über die Welt“. Mit diesem Zitat von Antonin Artaud leitet Patti Smith ihren neuen Roman ein, in dem sie sich kunstvoll und wortgewaltig durch die amerikanische Gegen- wart schreibt. Der Text ist ein Kunstwerk, eine mitunter surrealistische Traumlandschaft, die sie durchwandert. Gleichzeitig ist er eine Positionierung gegen die republikanische Katastrophe, gegen den „brand- gefährlichen Hahn“, der beim Neujahrsumzug in Chinatown durch die Straßen getragen wird und das Jahr des Affen ablöst – und zugleich das Jahr ihres 70. Geburtstages sowie den Anfang der Trump-Ära markiert. Daneben sind die Trauer und der Verlust wegweisende Motive. Smith lässt sich treiben, reist von einer Stadt zur nächsten, von einem Motel zum anderen, trinkt Kaffee, begegnet Menschen, die wie fantastische Gestalten ihren Weg kreuzen. Sie reist und gleichzeitig ist sie ganz nah bei ihrem Weggefährten Sandy Pearlman, der nach einer Gehirnblutung um sein Leben kämpft, und bei ihrem Freund Sam Shepard, der eben- falls schwer erkrankt ist. Der Tod und die Vergänglichkeit sind omnipräsent in ihrem Gedankenfluss, der sich poetisch durch die großen und kleinen Momente des Lebens und des Abschiednehmens zieht.

Smith sammelt und verweist gekonnt auf Literatur, Musik, Orte und wunderbare kleine Details, die sich tief verwurzeln und inspirieren. Sie lässt uns an ihrer Reise teilhaben, ihre Gedanken und Eindrücke prägen sich ein, und am Ende des Buches ist es beinah so als hätte man schweigend mit ihr auf dem Rücksitz eines alten Autos gesessen, während Charlie Gracies Song „Butterfly“ leise nachhallt.

Amanda Lasker-Berlin: Elijas Lied

Frankfurter Verlagsanstalt, 22,00 €
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Elijas Lied beginnt erschöpft, wird in der Mitte fröhlich und endet dunkel. Es ist ein Gipfellied, das die drei Schwestern bei ihrer Wanderung durchs Moor und auf den Berg hinauf begleitet. Elija ist die Älteste, liebt die Bühne und das Theater. Hier kann sie das sein, was sie sonst nicht darf – eine Mutter. Ihre jüngeren Schwestern Noa und Loth haben sich in ziemlich entgegengesetzte Richtungen entwickelt: Die eine gibt Menschen etwas, dass diese ohne sie nicht haben könnten und die andere versucht durch ihre radikale Gesinnung, Ordnung und Struktur in ihr Weltbild zu bringen – mit fatalen Folgen. Zusammen wollen sie den Gipfel erreichen, sich mal wieder nahe sein und vielleicht zueinander zurückfinden.

Unheimlich feinfühlig und intensiv, mit klaren und bewusst gewählten Worten, erzählt diese junge Autorin die Geschichte von drei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Beim Lesen steigt man zusammen mit den Frauen den Berg hinauf, sieht das Schöne und das Anstrengende und fühlt dabei der Lebenssituation jeder Einzelnen ganz persönlich nach.

Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia

Kiepenheuer & Witsch, 22,00 €
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In seinem Roman „Ach, Virginia“ zeichnet Michael Kumpfmüller ein so einfühlsames Porträt einer der großartigsten Autorinnen Englands, wie es eine detaillierte 1000-Seiten-Biographie wohl kaum gekonnt hätte. Ausgehend von Virginia Woolfs letzten Tagebucheinträgen und Abschiedsbriefen entwirft Kumpfmüller einen Bericht über die letzten zehn Tage der berühmten Schriftstellerin in ihrem Haus in Südengland während des Zweiten Weltkriegs. Es waren dunkle Tage voller Selbstzweifel und Todessehnsucht.

Wie fühlt es sich an, wenn man merkt, dass man langsam den Verstand verliert? Wenn man Menschen sieht und Stimmen hört, die nicht da sind? Wenn man seinem Mann nicht mehr vertraut und in dem Tod einen Geliebten erkennt, dem man sich mit Haut und Haar hingeben möchte? Kumpfmüller hilft uns, all’ diese Gefühle Virginias nachzuempfinden und hinter die Maske ihres Ruhmes zu blicken. Ein berührender Roman, der einen von der ersten bis zur letzten Seite fesselt – obwohl man von Anfang an weiß, wie er ausgehen wird.

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson

Suhrkamp, 22,00 €
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Die Lektüre dieses Romans hat uns begeistert – in thematischer, sprachlicher und kompositorischer Hinsicht. Die österreichische Autorin erzählt aus der Perspektive ihrer Protagonistin Alma Episoden aus deren Familiengeschichte über drei Generationen.

Über Jahre führt sie mit Friedrich, einem Fotojournalisten, eine Fernbeziehung, ehe beide heiraten. Ihr gemeinsamer Sohn Emil hat eine seltene Krankheit, er spürt keinen Schmerz. Wie die Ängste Almas beschrieben werden, wie sie ihrem Sohn „Denkaufgaben zu Krankheiten und Unfällen“ stellt, wie sie ihm „Rätsel über die Zerbrechlichkeit der Menschen“ zu lösen gibt, ist grandios. Auf überzeugende Weise gelingt es Valerie Fritsch, Schmerz als Metapher für körperliche und seelische Krankheiten darzustellen.

Almas Interesse und Zuneigung gilt den Großeltern, zu ihren Eltern hat sie ein distanziertes Verhältnis. Der Großvater ist traumatisiert und krank aus einem kasachischen Straflager zurückgekehrt; von der Großmutter, die von undefinierbaren Schmerzen geplagt ist, hört Alma skurrile Geschichten aus der Familie. Nach ihrem Tod brechen Alma, Friedrich und Emil zu einer langen Reise in Richtung Osten auf. Über viele Länder fahren sie auf den Spuren des Großvaters bis nach Kasachstan. In vielfältigen, eindrucksvollen Bildern erzählt die Autorin von Menschen, Orten und Landschaften. Am Ende ihrer Reise sieht Alma, dass der Ort des Straflagers verschwunden ist – er ist in die Natur zurückgekehrt.

George Eliot: Middlemarch

Deutsch von Neu übersetzt und herausgegeben von Melanie Walz, Rowohlt, 45,00 €
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George Eliot (1819-1880) ist das Pseudonym von Mary Ann Evans, einer erfolgreichen Autorin des Viktorianischen Zeitalters, die für ihre Zeit sehr unkonventionell dachte und lebte. In vier geschickt miteinander verbundenen Handlungssträngen zeigt „Middlemarch“ das gesellschaftliche, politische und soziale Leben in einer mittelenglischen Kleinstadt um 1830.

Dorothea, die junge Nichte eines Landedelmannes, ist voller Ideale und heiratet den 50jährigen Gelehrten Edward Casaubon, dessen fragwürdiges schriftstellerisches Werk und pedantisches, selbstsüchtiges Wesen sie mehr und mehr enttäuscht. Sie fühlt sich hingezogen zu dem jungen, künstlerisch begabten Will Ladislaw. Im Mittelpunkt des zweiten Erzählstranges stehen der Arzt Lydgate und seine junge Frau Rosamund – er voller neuer medizinischer Ideen, sie verschwenderisch und oberflächlich. Das Schicksal von Mr. Bulstrode, einem erfolgreichen Bankier mit dunkler Vergangenheit, durchzieht die dritte Geschichte des Romans. Ein Zeuge der früheren Betrügereien Bulstrodes taucht auf und erpresst ihn. Im vierten Handlungsstrang geht es um die Bauersfamilie Garth. Eine wichtige Rolle spielt der ehrliche und arbeitsame Caleb Garth, nicht nur im Leben seiner Tochter Mary.

George Eliot verfügt über ein großartiges psychologisches und sprachliches Können, die Beschreibung der seelischen Kämpfe ihrer Figuren ist einzigartig. Große Spannung und unterschwellige Ironie beleben dieses Meisterwerk der realistischen Romankunst noch zusätzlich – ein Meisterwerk, das dank der wunderbaren Neuübersetzung von Melanie Walz in ganz neuem Glanz erstrahlt.