Carmen Buttjer: Levi

Galiani Berlin, 22,00 €
Buchcover

Bei der Beerdigung seiner Mutter packt der elfjährige Levi die Urne mit ihrer Asche und rennt davon. Er verschanzt sich vor dem Vater mit Zelt und Luftmatratze auf dem Dachboden des Mietshauses, in dem er wohnt.

Levi wurde in Paris geboren, lebte mit seinen Eltern in Brüssel, London und seit einem Jahr in Berlin. Der Vater ist ein vielbeschäftigter Anwalt, seine Mutter Pathologin, sie streiten sich viel. Wenn die Mutter nachts arbeiten muss, schläft Levi häufig bei ihr im Krankenhaus, eines Morgens erwacht er und findet sie erstochen auf. Traumatisiert und orientierungslos irrt er durch die Stadt und redet sich ein, mal ein Tiger, mal der Vater habe die Mutter getötet. Zuflucht sucht er bei zwei Männern, die auch von traumatischen Erfahrungen bedrängt werden: Kolja, der Kioskbesitzer von gegenüber, dem Levi gern hilft, war Kriegsfotograf und dokumentierte die Grausamkeit des Krieges; und Vincent, der im fünften Stock wohnt und zwielichtige Geschäfte betreibt, dessen Vater viel Geld veruntreute und nach Aufdeckung mit seinem Auto von einer Brücke raste.

Carmen Buttjer erzählt aus der Sicht des Elfjährigen mit raschem Szenenwechsel, temporeichen Dialogen, mit Witz und Komik, welche die traurigen Geschichten in ein atmosphärisch berührendes Licht rücken.

Dana von Suffrin: Otto

Kiepenheuer & Witsch, 20,00 €
Buchcover

Otto ist alt, egozentrisch, sparsam, selbstbewusst und davon überzeugt, für seine Töchter die Welt zu bedeuten. Timna und Babi begleiten ihren Vater stoisch durch unzählige Krankenhausaufenthalte, durch seine Verrücktheiten und ertragen seine ausufernden Forderungen und Vorwürfe mit einer beinah übermenschlichen Geduld. Otto ist der Inbegriff eines Patriarchen, aber ist auch voller schräger, liebevoller Einfälle und Gesten.

Als einziger seiner Familie zieht der jüdische Siebenbürger nach dem zweiten Weltkrieg nach Deutschland und gründet dort 50-jährig eine Familie im Münchner Olympiadorf. Die Ehe mit Timnas und Babis Mutter scheitert und ufert in einen scherbenreichen Rosenkrieg aus.

Dana von Suffrin beschreibt mit viel Fingerspitzengefühl Timnas letztes Jahr mit ihrem vereinnahmenden Vater, der immer mehr zum aussichtslosen Pflegefall wird. Mit viel schwarzem Humor und Feingefühl erzählt sie die Geschichte einer chaotischen Familie, erzählt von den großen Tragödien des 20. Jahrhunderts, dem langsamen Abschiednehmen von den Eltern und der bedingungslosen Liebe, die manchmal – entgegen aller Wahrscheinlichkeiten – weiterbesteht.

Robert Macfarlane: Im Unterland

Deutsch von Andreas Jandl und Frank Sievers, Penguin, 24,00 €
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Der britische Naturschriftsteller Robert Macfarlane nimmt uns mit auf eine Entdeckungsreise unter die Erde. Er besucht Höhlensysteme mit uralten Begräbnisstätten und einen Astrophysiker, der in alten Salzminen die „Dunkle Materie“ untersucht. Mit den „Cataphiles“, den Erforschern der Tunnel, Gänge und Schächte, durchwandert Macfarlane das riesige, unterirdische Paris, mit einem Pilzforscher erkundet er den Waldboden unter seinen Füßen, er steigt hinab zu reißenden, unterirdischen Flusssystemen in Südeuropa, in unheimliche Gletschermühlen auf Grönland und besucht ein Atommülllager auf einer abgelegenen finnischen Insel.

Es ist eine spannende und poetische Reise in das Geheimnisvolle, in das Versteckte und Verschlossene, in den Untergrund, über dem wir leben, dem wir kaum mehr Beachtung schenken, der uns aber immer wieder auch unsere Geschichte aufzeigt. Macfarlane führt uns die Wunder und Gefahren vor, die im Verborgenen auf uns warten, und offenbart uns gleichzeitig die Verletzbarkeit dieser faszinierenden Welt, die wir durch unsere Eingriffe bedrohen und zerstören.

Ulrike Draesner: Kanalschwimmer

Mare, 20,00 €
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Charles steht kurz vor der Pensionierung, als seine Frau Maude ihm eröffnet, dass sein bester Freund Silas fortan mit ihnen ihr Heim teilen soll, auch als Liebhaber seiner – Charles’ – Frau. Seine Ehe scheint zerbrochen, der Traum von einem beschaulichen Lebensabend zerstört. So beschließt Charles, seinen langgehegten Traum vom Durchschwimmen des Ärmelkanals zu verwirklichen.

Wir begleiten Charles auf seinem Abenteuer, durchleben seinen physischen und seelischen Kampf mit dem gnadenlosen, kalten Salzwasser, den Kampf gegen sich selbst, das Weitermachen trotz der totalen Erschöpfung, die ihm Kräfte und Sinne raubt. Gleichzeitig erfahren wir die Geschichte jenes Dreiergespanns, das über Jahrzehnte eine tiefe Freundschaft verband und einst einen schrecklichen Verlust erfuhr. Schafft Charles die Durchquerung des Ärmelkanals – und damit einen Neubeginn? Oder gibt er auf?

Bram Stoker: Dracula. Große kommentierte Ausgabe

Deutsch von Andreas Nohl, Fischer, 78,00 €
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Die großartige Neuübersetzung eines der größten Schauerromane Weltliteratur – im Gewand eines reich bebilderten und lauter spannende Hintergrundinformationen enthaltenden Foliobandes! Allen Leser*innen mit Sinn für viktorianische Romantik und anspruchsvolle Fantasy-Literatur sei dieses Jahrhundertwerk, das 1897 erstmals erschien, unbedingt empfohlen.

Der junge Rechtsanwalt Jonathan Harker wird nach Siebenbürgen auf das Schloss des Grafen Dracula eingeladen, um mit ihm über den Kauf eines Grundstücks in England zu verhandeln. Schon bald registriert Harker seltsame Dinge um sich herum: Der Schlossherr scheint sich verwandeln zu können, kommuniziert mit Wölfen und gerät beim Anblick von Blut in eine bizarre Raserei. Nachdem Harker sich den nächtlichen Angriffen dreier Vampirinnen gerade noch erwehren kann, ergreift er die Flucht und kehrt nach England zurück. Doch auch Graf Dracula ist dort schon eingetroffen – und nun geht die Geschichte erst richtig los…

Das ganze Geschehen wird aus unterschiedlichen Perspektiven mittels Tagebuchaufzeichnungen und Briefen erzählt, was den Plot äußerst abwechslungsreich macht und zusätzlich Spannung erzeugt. In seinem Kommentar erhellt Leslie S. Klinger sowohl die stilistischen Kniffe Stokers als auch den historischen Kontext des Romans. Und er ordnet ihn kulturgeschichtlich ein und spannt dabei den Bogen von Lord Byron bis Anne Rice – dieses Buch beschreibt einen Kosmos, in den man einfach nur eintauchen möchte!

Eugen Ruge: Metropol

Rowohlt, 24,00 €
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Wir befinden uns 1936 in Moskau im Hotel Metropol. Das frühere Luxushotel der Stadt ist mittlerweile wiedereröffnet und immer noch eine angesehene Adresse. Die deutsche Kommunistin Charlotte und ihr Mann Wilhelm sind nicht freiwillig hier eingezogen. Als Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der Komintern befinden sie sich faktisch unter Arrest, dürfen nur im Speisesaal zweiter Klasse essen und das Haus lediglich tagsüber verlassen. Aber warum? Hat es was mit den trotzkistischen Prozessen und der Verurteilung ihres gemeinsamen Bekannten, vielmehr Freundes, dem Volksfeind Alexander Emel zu tun? Hat ihre, unabhängig voneinander verfasste, Selbstanzeige nicht jeglichen Zweifel an ihrer vorbildlichen Gesinnung ausgeräumt?

Eiskalt ist dieser russische Winter und wirkt so wie ein Vorbote auf die Ungeheuerlichkeit des aufkommenden politischen Terrors und den fast bettelnden Gehorsam nahezu aller Beteiligten. Die faszinierende, mitunter minutiös erzählte Handlung lässt den Leser gebannt auf die unwiderrufliche Entwicklung dieses Tatsachenromans schauen. Eugen Ruge ist eine grandiose Vorgeschichte seines berühmten Romans „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ gelungen.

Valeria Luiselli: Archiv der verlorenen Kinder

Deutsch von Brigitte Jakobeit, Kunstmann, 25,00 €
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Über Valeria Luisellis „Archiv der verlorenen Kinder“ ist bereits viel in den Feuilletons geschrieben und gesagt worden – als Geheimtipp kann ihr Roman somit nicht mehr gelten. Ein absolutes Unikat ist ihr poetischer, vielschichtiger, von Brigitte Jakobeit wunderbar übertragener Text trotzdem.

In Luisellis Roadnovel brechen eine Frau, ihr Mann und die beiden Kinder zu einer außergewöhnlichen Reise durch die USA auf. Die Route ist dabei vorgezeichnet. Als Dokumentaristen archivieren die Eltern, deren Beziehung im Verlaufe der ausgedehnten Fahrt immer fragiler wird, Töne und Sounds in ihrer jeweiligen Umgebung. Die Mutter spürt den Schicksalen der auf der Flucht in die USA verlorengegangenen Kinder aus Südamerika nach, während der Vater – von der Geschichte der letzten Apachen fasziniert – den längst verhallten Echos dieses einst verfolgten Stammes hinterherjagt. Luiselli erzählt mit einer beeindruckenden psychologischen Tiefenschärfe vom Auseinanderbrechen einer Familie, sie erzählt von den feinsinnigen, ungeahnten Blicken der Kinder auf ihre Eltern und von einer großen Liebe, die auch im Bruch weiterbestehen kann. Gleichzeitig webt sie ihre Narration über zeitliche Grenzen hinweg und beschreibt die tragische Geschichte der Kolonialisierung Nordamerikas und der damit einhergehenden massenhaften Ermordung der Ureinwohner. Dieses düstere Kapitel der amerikanischen Geschichte verknüpft sie auf faszinierende Weise mit der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Migrationsdebatte in den USA und den menschenunwürdigen Flucht- und Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende.

Mareike Fallwickl: Das Licht ist hier viel heller

Frankfurter Verlagsanstalt, 22,00 €
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In ihrem neuen Roman beschreibt Mareike Fallwickl eine Familie, die kaputter nicht sein könnte: Maximilian Wenger, Mitte fünfzig, ehemaliger Erfolgsschriftsteller, befindet sich beruflich wie privat auf dem absteigenden Ast. Die Ideen gehen ihm aus, sein Agent ist kurz davor, ihn fallen zu lassen, und aus der schicken Villa in Salzburg musste er ausziehen – in eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in die Provinz. Seine Ex-Frau Patrizia lebt inzwischen glücklich mit einer attraktiven Sportskanone namens Reto zusammen und bastelt fleißig an ihrer Influencer-Karriere. Für die Träume, Wünsche und Sorgen ihrer Tochter Zoey fehlt sowohl Wenger als auch Patrizia jegliche Aufmerksamkeit – zu sehr sind beide mit sich selbst beschäftigt. Zoeys einziger „Verbündeter“ ist ihr Bruder Spin, für den sie durchs Feuer gehen würde. Als Wenger beginnt, Briefe einer unbekannten Frau zu lesen, die an seinen Vormieter adressiert sind und regelmäßig im Postkasten der neuen Wohnung landen, kehrt er langsam in die Erfolgspur zurück: Wenger plagiiert, er nutzt Inhalt und Wortlaut der Briefe für ein neues Romanprojekt. Doch auch Zoey entdeckt die Briefe und das Tochter-Vater-Verhältnis wird zunehmend prekärer…

Wer Mareike Fallwickls „Dunkelgrün fast schwarz“ mochte, wird „Das Licht ist hier viel heller“ lieben. Perfide Machtspiele, wie sie im Vorgängerroman ausgetragen wurden, erscheinen im neuen Buch noch auf die Spitze getrieben – hier sind es Machtkämpfe!

Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss

Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel, Guggolz, 22,00 €
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Der norwegische Schriftsteller Tarjei Vesaas (1897-1970) hat ein umfangreiches Werk an Romanen, Erzählungen, Dramen und Gedichten hinterlassen. Ein Kleinod seiner lyrischen Prosa ist „Das Eis-Schloss“, 1966 erschienen. Erzählt wird von zwei elfjährigen Mädchen, Siss und Unn. Unn ist neu in die Schulklasse gekommen, sie lebt bei ihrer Tante, da die Mutter plötzlich gestorben ist. Die beiden Mädchen fühlen sich voneinander angezogen und sind voller Sehnsucht nach einer Freundschaft. Ihre erste intensive Begegnung in Unns Zimmer ist aufregend und verwirrend. Am Morgen danach geht Unn nicht in die Schule, sondern wandert über einen zugefrorenen See zu einem Wasserfall, der erstarrt ist wie ein phantastisches Schloss aus Eis.

Sie geht hinein, aber findet nicht wieder heraus. Eine tagelange Suche beginnt, an der sich auch Siss beteiligt. Immer wieder wird sie zu Unns Verschwinden befragt. Hat Unns Geheimnis, das sie Siss bei ihrem Besuch erzählen wollte, damit zu tun? Ihre Trauer isoliert Siss von den anderen Mädchen und Jungen. Erst der gemeinsame Ausflug mit ihnen, im Frühling, zum nun von Rissen durchzogenen Eis-Schloss und dem wieder tobenden Wasserfall bringt ihr Befreiung und Erlösung.

Ein wunderbarer kleiner Roman über das Seelenleben zweier junger Menschen in einer poetischen, symbolträchtigen Sprache erzählt und von Hinrich Schmidt-Henkel einfühlsam übersetzt.