Alana S. Portero: Die schlechte Gewohnheit

Deutsch von Christiane Quandt, Claassen, 24,00 €
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Manche Bücher müssen weh tun, wenn sie der Realität, die sie beschreiben, gerecht werden wollen. Zu Kunst werden sie dann, wenn sie die Zärtlichkeit in ihr entdecken. Die spanische Autorin Alana Portero hat uns mit ihrem Debütroman Die schlechte Gewohnheit ein solches Kunstwerk geschenkt: Wir begleiten eine Protagonistin auf ihrer persönlichen Selbstfindungsreise – und lernen schnell, dass sie sich die Route nicht selbst aussuchen kann. In den armutsgeplagten Vororten Madrids führt sie tagsüber ein Leben als der junge Mann, den alle in ihr sehen und den sie von ihr erwarten. Es ist ein Leben im Schrank, so beschreibt sie es, das nur Nachts zu ihrem eigenen, freien Leben wird, wenn sie auf Absätzen das Madrider Nachtleben betritt. Und selbst diese Aussage ist letztlich zu korrigieren: sie ist niemals frei, ihr Leben niemals ihr Eigen. Weil ihre Familie einfach nicht anders kann, die Gesellschaft nicht anders will und die Wenigen, die wollen, dagegen schlicht nicht ankommen.

Für viele Menschen, die sich auf ähnlichen Reisen befinden, kann dieser Roman ein Anker sein, eine Stimme, ein Schritt aus dem Schrank. Er ist aber auch ein Angebot zur Auseinandersetzung, vielleicht sogar eine nicht ganz schmerzlose, aber umso wichtigere Offenbarung, für all diejenigen, die (vermeintlich?) sein können, wer sie sind. Ein Geschenk ist übrigens auch die Übersetzung von Christiane Quandt, die alle emotionalen Nuancen des Leidens bewahrt, und dabei, wie die Autorin selbst, auch für die Hoffnung und das Glück die richtigen Worte findet.

Paula Fürstenberg: Weltalltage

Kiepenheuer & Witsch, 23,00 €
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Wenn du zu uns in die Buchhandlung kommst, hast du entweder eine ganz genaue Vorstellung davon, wie deine nächste Lektüre sein sollte – oder du sagst so etwas wie „Ich bin offen für was Neues!“ Und dann sehen wir in deinem Gesicht diesen vorfreudigen Ausdruck, weil du ja schon weißt: Gleich kommt eine persönliche Empfehlung, die dir, wenn du dann mit diesem neuen Buch nach Hause gehst, im besten Fall einige Stunden literarischen Genuss beschert. Die Zutatenliste einer solchen Empfehlung: Einige Schlagworte zum Inhalt, leicht philosophische Fragen und eine Prise persönliche Note.

Fangen wir an: Freundschaft, chronische Krankheit und Depression, ostdeutsche Mütter, Scham, Geld, Arbeit und Klasse. Dann: Welchen öffentlichen Raum geben wir Ungesunden? Wie spricht die Literatur über Körper und Krankheiten, was sagt diese Sprache über unseren Umgang damit aus? Wie verändert eine Diagnose die Dynamik zwischen Freund:innen? Wo liegt die Grenze zwischen Fiktion und Realität und wer darf eigentlich wessen Geschichte erzählen, sie prosaisch ausbeuten? Und zum Schluss: Dieses Buch hat mein Herz erobert. Es ist in Stil und Form so überraschend, kreativ und liebevoll, es ist zu Tränen rührend traurig und komisch zugleich.

Weltalltage richtet unseren Blick auf einen der größten Makel unserer Zeit: dass wir in einer Gesellschaft leben, die nicht auf Makel ausgerichtet ist. Ich möchte es am liebsten sofort noch einmal lesen – aber jetzt bist du ja erst einmal dran.

Isaac Rosa: Ein sicherer Ort

Deutsch von Luis Ruby, Liebeskind, 24,00 €
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Segismundo García hat eine Geschäftsidee: Während sich die Superreichen weltweit mühelos auf die Apokalypse vorbereiten können, will er sichere Orte für die „kleinen Leute“ anbieten. Schließlich sind sie es, die in unserer hemmungslos kapitalistischen Welt immer weiter zurückbleiben. Was früher der Schrebergarten mit seinen paar Quadratmetern Selbstverwirklichung war, ist heute der private Bunker im Kellerabteil oder in der Garage. Blöd nur, dass Segismundo trotz Schlange stehender Interessenten keinen Kredit für seine Unternehmung bekommt. Dafür kann er sich bei seinem Vater, Segismundo Senior, bedanken, der mit betrügerischen Zahnkliniken den Familiennamen besudelt hat – auch wenn er davon nichts mehr weiß, weil er an Demenz leidet. Und dann bringt auch noch der Sohnemann – festhalten, auch der heißt Segismundo – Ärger ins Haus, als dessen illegalen Sportwetten an einer elitären Privatschule auffliegen.

Klingt ulkig? Ist es auch. Vor allem aber ist Ein sicherer Ort – hervorragend übersetzt von Luis Ruby – ein messerscharfer Gesellschaftsroman eines Schwergewichts der spanischen Gegenwartsliteratur. Isaac Rosa beleuchtet beinahe beiläufig drängende Fragen einer Zeit, deren gegenwärtiges System keine Antworten mehr parat zu haben scheint. Statt mit erhobenem Zeigefinger gelingt ihm das mit einem herrlich intelligenten Humor, von dem niemanden verschont bleibt. Auch sonst macht es Rosa uns stilistisch sehr leicht, das Buch nicht allzu schwer zu nehmen – und hinterlässt genau dadurch Spuren.

Thea Mengeler: Nach den Fähren

Wallstein, 20,00 €
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Die Insel, auf die uns Thea Mengeler in ihrem zweiten Roman mitnimmt, ist weder zeitlich noch geografisch verortet. Auf dem einst so beliebten Urlaubsziel, einem nun fast verlassenen Ort, irgendwo da draußen auf dem Meer, ist mit dem plötzlichen Ausbleiben der Fähren vor einigen Jahren das Leben fast zum Stillstand gekommen. Viele Bewohner haben die Insel verlassen, geblieben sind nur Wenige – Einheimische oder ehemalige Urlauber. Da ist der Hausmeister des Sommerpalastes, der noch immer tagtäglich seiner Arbeitsroutine nachgeht, oder die Doktorin, die im Apartment 3B wohnt und zum Einschlafen im Wechsel immer die gleichen drei Bücher liest. Und der Hafenwärter, der noch immer darauf hofft, dass vielleicht morgen die Fähren wiederkommen. An Bewegung oder Veränderung ist nicht wirklich zu denken; die Menschen haben sich, so scheint es, mit dem Rückzug und dem Alleinsein arrangiert. Bis eines Tages plötzlich Ada im Sommerpalast auftaucht und sich das Gefüge der einzelnen Figuren zu verschieben beginnt, ganz vorsichtig … Diese Vorsicht ist es, die diesen stillen Roman so faszinierend macht.

Thea Mengeler konzentriert sich auf das Wesentliche. In einer reduzierten, aber dennoch dichten, kunstvollen Sprache bewegen wir uns fast schwebend durch diesen Roman und beobachten die minimalen Verschiebungen, die die Figuren aus dem Stillstand erwachen lassen: wie kleine Plättchen, die auseinander- und wieder aufeinander zu driften und dadurch feine Risse sichtbar machen. Ein wahres Kunstwerk, dieses feine Buch!

Gaea Schoeters: Trophäe

Deutsch von Lisa Mensing, Zsolnay, 24,00 €
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Ist eine Nashornjagd legitim, wenn man für viel Geld eine Lizenz für einen Abschuss erwirbt, welches dem Naturreservat und den Rangern zugutekommt? Nein! Auch dann nicht, wenn das Nashorn genetisch ausrangiert und für den Fortbestand seiner Spezies ohne Bedeutung ist? Hunter ist US-Amerikaner, stinkreich, und hält sich für moralisch integer, als er auf dem afrikanischen Kontinent landet, um die sogenannten Big Five endlich vollzumachen. Sein langjähriger Jagdleiter und Freund Van Heeren hat vor Ort alles vorbereitet für eine „echte“ Jagd, ohne abendliche Lodge, Begleitfahrzeug oder sonstigen Komfort. Doch etwas geht schief und Hunter sieht sich mit einer Entscheidung konfrontiert, die sein Ego letztlich zerplatzen lässt.

Gaea Schoeters ist mit diesem Roman etwas Außergewöhnliches gelungen: Sie führt uns nicht nur ins tiefste Dickicht des postkolonialen Afrikas, sondern lotet philosophisch abgründig die menschliche Psyche aus. Dabei bildet die feine und doch nüchterne Sprache einen wirkungsvollen Kontrast zu der soghaften, aber eben auch häufig abstoßenden Handlung. Schonungslos schauen wir auf den Jäger Hunter White.

Paul Murray: Der Stich der Biene

Deutsch von Wolfgang Müller, Kunstmann, 30,00 €
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Ein grandioses Familien-Epos hat Paul Murray mit dem Stich der Biene erschaffen: berührend, klug, düster, dennoch humorvoll. In einer irischen Kleinstadt nahe Dublin lebt die Familie Barnes. Einst wohlhabend, da im Besitz des örtlichen Autohauses, ist aufgrund der Finanzkrise 2008 (nicht nur) der finanzielle Wohlstand der Familie bedroht. In wechselnden Erzählperspektiven nimmt uns der Autor mit, hinter die bröckelnde Fassade zu blicken und die Ursachen zu ergründen.

Cassie, älteste Tochter und Einser-Schülerin, steht kurz vor ihrem Schulabschluss, steckt in einer toxischen Beziehung zu einer Schulfreundin, und fängt aus Trotz an, sich täglich zu betrinken. PJ, der zwölfjährige Sohn, ist gefangen in der Welt der Egoshooter und der Angst, dass sich die Eltern scheiden lassen. Imelda, die Mutter, einstige Dorfschönheit, abgestoßen von der Unfähigkeit ihres Mannes, das Familienunternehmen zu führen, verkauft sämtliche Wertgegenstände auf Ebay. Und Dickie ist der resignierte Vater und Ehemann, der eigentlich einen ganz anderen Weg einschlagen wollte, jedoch gezwungen wurde, das Autohaus und die Verlobte seines verstorbenen Bruders Frank zu übernehmen. Nun baut er einen Endzeit-Bunker im Wald.

Der Stich der Biene entfaltet einen besonderen Sog, dem man sich beim Lesen kaum entziehen kann: dieser 700-Seiten-Schinken ist jede Seite wert. Der Autor vermag es virtuos, die Erzählstränge zusammenzuführen und steuert auf ein großes Finale zu.

Alina Herbing: Tiere, vor denen man Angst haben muss

Arche Literatur, 23,00 €
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Ein Haus im Grünen soll es sein. Für die Mutter geht ein großer Traum in Erfüllung, als sie mit ihrer Familie auf einen Hof im Mecklenburger Land zieht. Doch die herbeigesehnte Idylle ist bei Weitem nicht so malerisch wie erhofft. Zuerst geht der Vater, später auch die Brüder, und zurück bleiben Madeleine, ihre jüngere Schwester Ronja und ihre Mutter.

Es wird Herbst, das Geld ist knapp und das wenige Essen kurz vor dem Ablaufdatum. Und dann sind da noch die Tiere: Hunde, Katzen, Wildschweine, eine Eule und ein Schwan. Die Mutter hält sie zur Pflege und immer, wenn sie von ihrer Arbeit nach Hause kommt, gilt ihnen all ihre Fürsorge. Für Madeleine und Ronja bleibt da kaum etwas übrig. Sie müssen sich selbst um alles kümmern, geben einander Halt und Wärme in diesem zugigen, morschen Zuhause, das immer mehr von den Tieren erobert wird.

Mit einer ruhigen, zugleich eindringlichen Sprache erzählt dieser Roman vom (zu frühen) Erwachsenwerden, von Vernachlässigung, der Suche nach Geborgenheit und nicht zuletzt auch von der Hoffnung auf eine selbstbestimmte Zukunft. Wenn das idyllische Leben auf dem Land zwischen maroden Hauswänden, klirrender Kälte und dem Gestank von Tierunrat zum desillusionierten Überleben wird.

Ann Patchett: Der Sommer zu Hause

Deutsch von Ulrike Thiesmeyer, Berlin, 26,00 €
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Drei erwachsene Töchter kehren zu Beginn der Pandemie zurück auf die elterliche Obstfarm in Michigan. Nicht alle Erntehelfer können kommen, die Familie muss bei der Kirschernte mithelfen. Um sich beim Pflücken die Zeit zu vertreiben, bitten die Töchter ihre Mutter Lara, die Geschichte ihrer Jugendliebe Duke, einem inzwischen berühmten Schauspieler, zu erzählen. Wie war es damals, mit ihm in einer kleinen Theatertruppe zu spielen und Thornton Wilders episches Our Town auf die Bühne zu bringen? Welche Träume hatte Lara? Und würde sie etwas an ihrem Lebensweg ändern, wenn sie könnte?

Schicksal und Entscheidung, Familie und Zufriedenheit: Ann Patchetts Der Sommer zu Hause ist kein Pandemieroman, sondern ein unaufgeregtes, aber feinfühliges und inniges Buch über das Geschichtenerzählen und das „geheime“ Leben der eigenen Eltern, bevor sie Eltern wurden. Ein Buch wie ein warmes Stück Kirschkuchen!

Martin Hägglund: Dieses eine Leben – Glaube jenseis der Religion, Freiheit jenseits des Kapitalismus

Deutsch von Stephanie Singh, C. H. Beck, 32,00 €
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Ausgehend von dem festen Glauben an ein Leben, das endlich und eben nicht ewiglich ist, und der Frage, wie dieses eine Leben zum Wohle aller und in wahrer Freiheit für uns selbst gelebt werden kann, reist der Philosoph Martin Hägglund quer durch die Geschichte. Er forscht nach bei den großen Denkerinnen und Denkern, bei Religionsstiftern und Gesellschaftskritikerinnen und gräbt sich durch die Literaturgeschichte. Die Liebe zu allem, was lebt, die Verantwortung für unseren Planeten und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit sind Motivation und Ziel gleichermaßen.

Hägglund erzählt ausführlich und leidenschaftlich. Und uns Lesende fordert er sanft auf, uns zu positionieren: Woran glaube ich? Wie lebe ich sinnvoll im Hier und Jetzt? Was ist Fortschritt? Mache ich mir bewusst, dass ich sterblich bin? Hägglunds eigene Antworten wollen nicht um jeden Preis gefallen, aber bewegen wollen sie uns. Und das gelingt in diesem klugen Buch auf Horizont erweiternde Weise.